Grosses Potenzial für Schweiz
Ist Indien das neue China?

Indien will sein Potenzial voll ausschöpfen, was Schweizer Firmen Chancen bietet. In vielerlei Hinsicht ist das Land sogar das bessere China.
Publiziert: 16.02.2024 um 11:14 Uhr
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Aktualisiert: 16.02.2024 um 12:26 Uhr
Peter Rohner
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Peter Rohner und Bernhard Fischer
Handelszeitung

Indien ist auf der Überholspur. Letztes Jahr hat es China als bevölkerungsreichstes Land abgelöst. Rund 1,43 Milliarden Menschen leben auf dem Subkontinent. Das sind mehr als ein Sechstel der Weltbevölkerung.

Und auch die Wirtschaft floriert. Vom Schock der Pandemie 2020 hat sie sich schnell erholt. Sie wächst um rund sieben Prozent pro Jahr und damit deutlich stärker als die chinesische Wirtschaft.

Wegen der Handelsstreitigkeiten zwischen China und den USA sowie aufgrund der steigenden Löhne in China verlagern westliche Unternehmen zunehmend Teile ihrer Produktion nach Indien oder suchen das grosse Geschäft in einem gigantischen Absatzmarkt. «Die indische Mittelschicht wächst und wird immer kaufkräftiger – genug Möglichkeiten, um eine eigene Niederlassung aufzubauen und lokal präsent zu sein. Und im Idealfall auch vor Ort günstig produzieren zu können», sagt Florin Müller, Leiter des Swiss Business Hub in Indien.

Indien ist unter Premier Minister Narendra Modi auf dem Vormarsch.
Foto: keystone-sda.ch
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Jung und demokratisch

Firmen wollen zudem ihre Lieferketten absichern und die Abhängigkeit von China reduzieren – bekannt unter der «China+1»-Strategie westlicher Staaten und Unternehmen. «Aber allein schon als Absatzmarkt und Produktionsstandort ist Indien für sich wichtig genug für westliche und Schweizer Firmen», sagt Indien-Kenner Müller. Es gehe nicht nur um eine Risikominimierung in Bezug auf China. Sondern um die Chancen, die sich in Indien bieten. Ist Indien also das neue China?

In vielerlei Hinsicht ist es sogar das bessere China. Indien ist kein kommunistischer Einparteienstaat wie die Volksrepublik. «Wenn man es mit China vergleicht, so sind die Schweiz und Indien Demokratien, und das verbindet», sagt Müller.

Zudem ist die Bevölkerung jung – die Hälfte jünger als 29 Jahre. In China wiederum liegt das Medianalter bei 39, in den meisten westlichen Industrieländern über 40. Indien profitiert von der demografischen Dividende, so nennt man den Entwicklungsschub aufgrund der günstigen Altersstruktur.

In China sind nicht nur die Menschen im Schnitt älter, sondern ist auch der Markt gesättigter. Das Land hat mit einem Pro-Kopf-Einkommen von mehr als 12’000 Dollar weiter zu den Industrieländern aufgeschlossen. China hat in den letzten Jahrzehnten das Land zugebaut und sitzt nun auf einem Schuldenberg. Indien hingegen steht wegen der überfälligen Investitionen in die Infrastruktur vor einem Wachstumsschub. Diese Vergleiche helfen, zu verstehen, weshalb in Indien so viel Potenzial schlummert.

Der Bund ortet grosses Potenzial für die Schweiz

Für den Bundesrat reicht das schon, um Indien zu einem Kernland seiner Strategie für die Exportwirtschaft zu machen. Seit Jahren laufen Verhandlungen über ein Freihandelsabkommen. Es steht laut Wirtschaftsminister Guy Parmelin kurz vor dem Abschluss.

Ausserdem hat der Bundesrat im vergangenen Jahr diverse Grossprojekte für die Exportwirtschaft identifiziert, wie Verbrennungs- und Entsalzungsanlagen, Flughäfen, Eisenbahnprojekte und vieles mehr.

Auf den Boden bringen müssen das aber die Unternehmen. Ihnen geht es letztlich nicht nur um das Potenzial, sondern um handfeste Umsätze. Auch hier sind die Zahlen eindrücklich: Die Gesamtausgaben des indischen Staates belaufen sich für das Fiskaljahr 2024/2025 auf umgerechnet 620 Milliarden Dollar. Damit finanziert werden sollen nicht nur die laufenden Ausgaben für die Bevölkerung, die Grundversorgung und die Sicherheit des Landes. Sondern auch die Infrastruktur wird damit ausgebaut, Forschung, Entwicklung und Bildung werden vorangetrieben, und hochgesteckte Klimaziele sollen erreicht werden.

Es sind Bereiche, in denen Schweizer Unternehmen punkten können. Ihr Angebot reicht von Kloschüsseln und Reinigungsrobotern über Kabelbäume und Insulinpumpen bis hin zu Automobilteilen, Textilmaschinen und ganzen Zügen – um nur einige Produkte zu nennen.

Die Chancen steigen auch für Stadler Rail

Schweizer Unternehmen können quasi mit der Wünschelrute durchs Land gehen und werden fast immer fündig auf der Suche nach Kunden, Konsumentinnen und Projekten, die passen. Viele neue Firmen fassen Fuss, andere sind schon seit Jahren dort. Über alle in Indien vertretenen Branchen hinweg gibt es insgesamt rund 330 Schweizer Firmen in dem Land. Und es kommen laufend neue dazu.

Huber+Suhner ist seit dreissig Jahren in Indien tätig und vertreibt Kabel. Die zwei grossen Kundengruppen sind indische Telekom-Firmen und die staatliche Eisenbahngesellschaft Indian Railways. Die indische Staatsbahn bekommt einen grossen Teil der geplanten staatlichen Investitionen ab. Zusätzlich zu den bestehenden 126’000 Schienenkilometern werden 5000 neu verlegt. Dafür braucht es mehr Züge, und alte müssen ersetzt werden.

Kein Wunder, hat der Zugbauer Stadler Rail diesen Markt schon länger im Visier. Bisher ohne Erfolg. Ein Auftrag für Expresszüge ist dem Unternehmen im Vorjahr durch die Lappen gegangen. Nun hat im Januar eine Delegation des Verbands der Schweizer Bahnindustrie (Swiss Rail) mit rund zehn Firmen im Schlepptau den indischen Eisenbahnminister getroffen. Kaum einen Monat später gibt es eine unterschriebene Absichtserklärung zwischen der Schweiz und dem indischen Verkehrsministerium.

Indien interessiert sich für das Schweizer Know-how beim Rollmaterial und bei der effizienten Verkehrsplanung sowie für die Erfahrungen beim Bau des Gotthardtunnels. Stadler Rail hat also noch alle Chancen.

Das Geld liegt für Schweizer Firmen nicht nur im Eisenbahnbau, sondern auch sprichwörtlich auf der Strasse. Tata und Mahindra gehören zu den grössten Automobilherstellern der Welt. Die Winterthurer Autoneum liefert Komponenten für diese Industrie weltweit zu – auch in Indien, mit Werken im nördlichen Behror und Chennai im Osten des Landes.

WCs von Geberit

Neue Hygiene- und Klimastandards öffnen vielen Schweizer Firmen die Tür. Der Sanitärhersteller Geberit spricht von einem «strukturellen Trend zu höherwertigen Sanitärstandards» und vom «positiven Marktumfeld» und hat in Indien ein Joint Venture und eine Fabrik. Auch der Küchenhersteller Franke liefert seine Armaturen nach Indien und hat vor Ort ein Werk. Und die St. Galler Cleanfix hat erst letztes Jahr eine Manufaktur für Reinigungsroboter in Indien aufgebaut. Das Unternehmen beliefert unter anderem das Flughafenprojekt in Noida – ein gigantisches Vorhaben mit Schweizer Handschrift.

Die Flughafen Zürich AG baut dort eines der grössten Flughafenprojekte im Norden des Subkontinents und südlich der Hauptstadt Delhi, mit neuen Terminals, Start- und Landebahnen, für zwölf Millionen Passagiere und die wichtigste Wirtschaftsregion des Landes. Das Investitionsvolumen: 750 Millionen Franken. In Betrieb gehen soll der Noida International Airport bereits Ende dieses Jahres.

Der Textilmaschinenhersteller Rieter fiel zuletzt mit zwei Übernahmen für sein lokales Geschäft in Indien auf. Die Medtech-Firma Ypsomed stellt Injektoren und Blutzuckermessgeräte für die Behandlung von Diabetes her. Indien ist dafür ein grosser Absatzmarkt, weil die Zuckerkrankheit in dem Land weit verbreitet ist.

Die Liste von erfolgreichen Schweizer Firmen in Indien lässt sich beliebig fortsetzen. Und auch sonst bieten die Entwicklungen in Indien Anlass zur Hoffnung. Aber von einem neuen China ist Indien noch weit entfernt, auch was die Bedeutung des Geschäfts mit Schweizer Firmen anbelangt. Zu gross ist die Kluft.

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Allein schon die unterschiedliche Grösse der Volkswirtschaften und des Aussenhandels sprechen Bände.

Chinas BIP ist in Dollar gemessen fünfmal so gross wie das indische. Selbst wenn Indien schneller wächst, wird der Rückstand gemäss Schätzung des IWF nur langsam schrumpfen.

Der bilaterale Handel der Schweiz mit China ist fast zehnmal so bedeutend. Ohne Edelmetalle schwanken die jährlichen Exporte nach Indien zwischen 2 und 3 Milliarden Franken.

Das liegt auch an den hohen Zöllen. Denn Indien hat von den grossen Wirtschaftsmächten die höchsten Handelsbarrieren. Bis 1991 war Indien quasi eine geschlossene Wirtschaft und hat sich erst danach geöffnet. Dieser Öffnungsprozess ist nach wie vor im Gang. «Indien verfolgt dabei wie viele andere Staaten eigene Interessen und pickt sich jene Branchen heraus, von denen es am meisten profitiert», sagt Müller.

Dieser Logik folgt auch die Make-in-India-Strategie von Premier Narendra Modi. In Teilbereichen, insbesondere im Industriebereich, gilt die Regel, dass, wenn man an öffentlichen Ausschreibungen teilnehmen will, man mindestens 30 Prozent der Wertschöpfung im Inland haben muss. Der verpflichtende Wertschöpfungsanteil variiert je nach Branche. Das bringt Schweizer Firmen dazu, Montagewerke in Indien zu errichten.

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Ein weiterer Grund, weshalb Schweizer Firmen derweil in Indien lieber montieren, statt auf der untersten Fertigungsstufe zu produzieren, ist das Fehlen eines flächendeckenden Berufsbildungssystems, wie man es in der Schweiz kennt. Das heisst, die Hauptkomponenten werden mehrheitlich immer noch in der Schweiz hergestellt, nach Indien verschickt und dort zusammengesetzt. Die Schweiz hat den Polymechaniker, Indien den Monteur und die Ingenieurin. Und die Abnehmer für Schweizer Produkte.

Ganz klar, Indien wird für westliche Branchen und Industrien immer bedeutender und unverzichtbarer. Aber es nehmen auch die Zwänge für eine weitere Integration zu. «Make in India» ist dabei nur ein Aspekt. Insbesondere der Pharmabranche bereitet das Sorgen, nicht zuletzt wegen des Patentschutzes. Indien ist auf dem Papier zwar völlig Trips- und WTO-konform. Bei der Durchsetzung der Regeln und Gesetze aber hapert es. Es gibt viel Bürokratie, und die Verwaltung ist mangelhaft.

Umso wichtiger wäre deshalb für die Schweiz ein Freihandelsabkommen. «Durch ein Freihandelsabkommen könnten Zölle sinken oder im Idealfall ganz wegfallen, wodurch Schweizer Exporteure Richtung Indien vor Ort wettbewerbsfähiger werden, beispielsweise gegenüber Konkurrenz aus der EU», sagt Dominique Ursprung, Dozent und Co-Leiter des Center for Global Competitiveness der ZHAW. Doch das Abkommen ist noch lange nicht in trockenen Tüchern. Im Fall eines Referendums hat das Volk das letzte Wort.

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