Fehlanreize im Gesundheitssystem
Schweizer Ärzte verschreiben wenig Generika – mit teuren Folgen

94 Prozent der Bevölkerung möchten laut einer Umfrage, dass Arztpraxen und Apotheken Generika statt Original-Präparate abgeben, um Kosten zu sparen. Doch ganz so einfach ist es nicht.
Publiziert: 08.11.2022 um 00:22 Uhr
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Aktualisiert: 08.11.2022 um 07:40 Uhr
Sarah Frattaroli

Eine Packung Paracetamol Sandoz mit 20 Tabletten kostet in einer Schweizer Online-Apotheke 2.50 Franken. Bei einer vergleichbaren deutschen Online-Apotheke sind es 0,49 Euro. Ein Extrembeispiel, aber bei weitem kein Einzelfall.

Im Schnitt kosten Generika, also Medikamente, deren Patentschutz abgelaufen ist, in der Schweiz knapp 50 Prozent mehr als im Ausland. Bei patentgeschützten Medikamenten beträgt der Preisunterschied zwischen der Schweiz und dem Ausland knapp 9 Prozent. Zu diesem Schluss kam im Frühling eine Auswertung des Krankenversicherungsverbands Santésuisse und des Branchenverbands Interpharma.

Es verwundert denn auch nicht, dass ganze 94 Prozent der Schweizerinnen und Schweizer sich in einer Sotomo-Umfrage dafür aussprechen, bei den Medikamentenpreisen anzusetzen, um die Gesundheitskosten zu senken.

In der Schweiz werden deutlich weniger Generika verschrieben als im Ausland. (Symbolbild)
Foto: KEYSTONE
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Ärzte kassieren höhere Margen

Die Befragten plädieren dafür, dass mehr Generika statt Originalpräparaten abgegeben werden. In der Schweiz handelt es sich bei 22 Prozent aller verkauften Medikamente um Generika. In Deutschland liegt die Quote bei 83 Prozent!

Der Krankenkassenverband Santésuisse geht von einem Einsparpotenzial von jährlich 200 Millionen Franken oder 18 Prozent aus, wenn konsequent Generika statt Originale zum Einsatz kämen. «Man kriegt die gleiche Gesundheit zum günstigeren Preis», fasst Tobias Müller (36), Gesundheitsökonom an der Berner Fachhochschule, zusammen.

Dass dies in der Schweiz nicht passiert, liegt auch daran, dass Arztpraxen höhere Margen einsacken, wenn sie Originale verkaufen. Sie werden prozentual beteiligt. Wenn die Original-Pille 10 Franken kostet, gibt es eine höhere Marge als beim Generikum für 5 Franken. «Ein offensichtlicher Fehlanreiz», kritisiert Müller. «Die Ärzte betreiben Rosinenpickerei.»

Generika-Preise im Sinkflug

Daneben spielen auch die Patientinnen und Patienten selber eine Rolle. Viele von ihnen greifen aus Gewohnheit zum Original statt zum Generikum. In Deutschland gilt ein Referenzpreissystem: Die Grundversicherung bezahlt nur für das günstige Generikum. Wer das teurere Original will, muss den Aufpreis selber bezahlen. In der Schweiz hat das Parlament dieses Modell vor zwei Jahren bachab geschickt.

Doch selbst wenn mehr Generika statt Originale verschrieben würden, hätte die Schweiz noch mit höheren Kosten zu kämpfen. Weil die Generika hierzulande teurer sind als ennet der Grenze. Das liegt an den höheren Herstellungskosten. Aber auch daran, dass die Schweizer Patientinnen und Patienten bereit sind, tiefer in die Tasche zu greifen, so Experten.

Die Pharmabranche widerspricht. Der Preisunterschied liege im kleinen, fragmentierten Schweizer Markt begründet, argumentiert Lucas Schalch (58), Geschäftsführer der Verbands Intergenerika: «Der Aufwand, ein Produkt hier auf den Markt zu bringen, ist grösser. Es braucht drei Sprachen.»

Die Preise patentgeschützter Medikamente werden in der Schweiz durch das Bundesamt für Gesundheit alle drei Jahre überprüft. An diesen Preisen orientieren sich auch die Generikapreise. «Durch die Überprüfung sind die Generikapreise in den letzten 20 Jahren um 45 Prozent gesunken», rechnet Schalch vor.

Versorgungssicherheit in Gefahr?

Kostensenkungen und ein Referenzpreissystem würden am Ende die Versorgungssicherheit gefährden, argumentiert die Branche. Je tiefer der Preis, desto günstiger müssen die Hersteller produzieren. Sie lagern ihre Produktion nach Asien aus, es entstehen Flaschenhälse – und im schlimmsten Fall Lieferengpässe. Das Bundesamt für Gesundheit (BAG) führt auf seiner Liste der lebenswichtigen Arzneimittel mit Lieferengpässen derzeit 89 Produkte. Die Schweiz steht punkto Versorgungssicherheit damit deutlich besser da als das Ausland. «Die Hersteller bedienen zuerst die, die den höchsten Preis bezahlen», erklärt Gesundheitsökonom Müller.

Im Extremfall können Kostensenkungen dazu führen, dass Generika gar nicht erst auf den Markt gebracht werden – und die Patienten keine Alternative zum Original haben. «Die vermeintliche Kosteneinsparung wird zum Bumerang», warnt Intergenerika-Chef Schalch.

Ricola teurer als Schmerztablette

So oder so: Der ganz grosse Hebel bei den Gesundheitskosten sind die Medikamentenpreise nicht. Laut Branchenangaben machen sie 12 Prozent aus. «Dieser Wert ist in den letzten sieben Jahren konstant geblieben», argumentierte Novartis-Schweiz-Chef Matthias Leuenberger (57) jüngst in einem Blick-Interview.

Exemplarisch zeigt sich das gerade bei den alltäglichen Medikamenten: Die 20er-Packung Paracetamol von Sandoz kostet in der Schweiz zwar deutlich mehr als in Deutschland. Heruntergerechnet auf die einzelne Tablette ergibt sich allerdings ein Stückpreis von 12,5 Rappen. Ein einzelnes Ricola-Kräuterbonbon kostet knapp 14 Rappen.

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