Oben arbeiten die Eltern, unten werden die Kids betreut
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Zürichs Co-Working-Space Tadah:Oben arbeiten die Eltern, unten werden die Kids betreut

Fachkräftemangel eröffnet Frauen neue Chancen
«Die Geschlechterungleichheit am Arbeitsmarkt wird 2030 gegessen sein»

Arbeitskräfte sind Mangelware – und können bei den Arbeitgebern Forderungen stellen. Das hilft besonders jenen, die bisher benachteiligt waren. Etwa den Frauen. Die Ungleichbehandlung könnte sich nun schneller ändern als gedacht. Zumindest in der Theorie.
Publiziert: 17.02.2023 um 00:01 Uhr
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Aktualisiert: 17.02.2023 um 14:01 Uhr
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Sarah FrattaroliStv. Wirtschaftschefin

Die Gewerkschaften blasen in vier Monaten – am 14. Juni – erneut zum Frauenstreik. Nun zeigt sich, dass die Chancen für Verbesserungen der Geschlechtergleichstellung am Arbeitsmarkt so gut sind wie nie: «Die Geschlechterungleichheit auf dem Arbeitsmarkt wird 2030 gegessen sein», prognostiziert der Arbeitsmarktexperte Tino Senoner (63).

Eine steile These. Die Begründung: Der Fachkräftemangel erreicht dann seinen Zenit. In der Schweiz werden zu diesem Zeitpunkt laut Senoners Prognose 800'000 Fachkräfte fehlen. Ein nie da gewesener Personalengpass – der den Frauen am Arbeitsmarkt auch nie da gewesene Chancen bietet.

Firmen investieren in Frauen

Es gilt, zwischen Einkommenslücke und Lohnlücke zu unterscheiden: Unter Einkommenslücke versteht man, dass Frauen im Schnitt weniger verdienen, weil sie zum Beispiel in tieferen Pensen arbeiten – oder gar nicht. «137'000 Frauen in der Schweiz befinden sich ausserhalb des Arbeitsmarkts», rechnet Evelin Bermudez (55) vor und bezieht sich dabei auf offizielle Zahlen des Bundesamts für Statistik (BFS). Bermudez ist Gastdozentin an der Hochschule Luzern (HSLU) und Präsidentin des Vereins Companies & Returnships Network (CRN), der sich für den Wiedereinstieg nach der Familienpause einsetzt. «75'000 dieser Frauen wären bereit, wieder in den Arbeitsmarkt einzusteigen», fährt sie fort.

Frauen haben am Arbeitsmarkt dank des Fachkräftemangels nie da gewesene Chancen. Julia Cebreros (l.) und Diana Wick Rossi vom Start-up Tadah.
Foto: Karin Frautschi
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Das Problem: Sie finden keine attraktiven Teilzeitstellen oder waren zu lange weg vom Arbeitsmarkt, haben veraltetes Wissen. Doch dank des Fachkräftemangels tut sich etwas: Die SBB etwa haben sich vor kurzem dazu bekannt, per sofort alle Stellen 60–100 Prozent auszuschreiben – auch bei Führungspositionen. Auch die Swisscom gehe mit gutem Beispiel voran, loben Beobachterinnen.

Die zunehmende Flexibilität gibt Frauen vermehrt die Möglichkeit, nach der Mutterschaft in den Arbeitsmarkt zurückzukehren, ohne in einem Minipensum auf dem Abstellgleis zu landen und Lohnrunde um Lohnrunde zu verpassen. Zusätzlich sind Unternehmen immer öfter bereit, in die Aus- und Weiterbildung von Frauen zu investieren, um sie nach jahrelanger Familienpause wieder fit für den Arbeitsmarkt zu machen. Von einem ähnlichen Effekt profitieren auch andere Gruppen, die bisher Mühe auf dem Arbeitsmarkt hatten, etwa über 50-Jährige.

Millennials wollen auch ohne Kinder Teilzeit arbeiten

Die neuen Teilzeitoptionen dienten nicht nur den Frauen – sondern der gesamten jüngeren Generation, argumentiert Diana Wick Rossi (45). Sie ist Co-Gründerin von Tadah, einem Start-up, das sich mit Vereinbarkeit beschäftigt und in Zürich-Albisrieden den ersten Co-Working-Space der Schweiz mit integrierter flexibler Kinderbetreuung betreibt. «Viele Millennials wollen Teilzeit arbeiten, obwohl sie keine Familie haben. Um nebenher eine Yoga-Ausbildung zu machen, ein Start-up zu gründen oder ein Buch zu schreiben», erklärt Wick Rossi.

Auch Männer nutzen die zunehmende Flexibilität und reduzieren ihre Pensen tendenziell. Weil Frauen aufstocken, während Männer reduzieren, schrumpft die Einkommenslücke. Der Effekt gegen den Fachkräftemangel hingegen ist dahin, die Unternehmen haben unter dem Strich nicht mehr Arbeitskraft zur Verfügung.

Profitieren am Ende die Männer?

Bei der Lohnlücke sieht die Situation anders aus. Sie beschreibt den unerklärbaren Teil der Lohnunterschiede zwischen Männern und Frauen – die Diskriminierung aufgrund des Geschlechts. Auch hier haben die Frauen dank des Fachkräftemangels plötzlich ein Instrument in der Hand, um aufzubegehren: Gebt mir mehr Lohn, oder ich suche mir einen neuen Job. Doch genau da liegt die Krux. «Es ist eine Holschuld», formuliert es Wick Rossi. Die Veränderung passiert nicht von alleine, sondern muss individuell eingefordert werden.

Ob Frauen das auf breiter Front tun werden, scheint fraglich. «Bei Frauen oder auch bei Minderheiten herrscht oft die Einstellung vor, sie müssten dankbar sein, überhaupt einen Job zu haben», erklärt Gudrun Sander (59), Titularprofessorin für Wirtschaft und Direktorin des Kompetenzzentrums für Diversity und Inklusion an der Universität St. Gallen. Der Fachkräftemangel stärkt das Selbstbewusstsein der Frauen am Arbeitsmarkt zwar. «Aber bis sich das bemerkbar macht, wird es noch dauern», so Sander.

Es könnte sogar der gegenteilige Effekt eintreten: Wenn Männer angesichts des Fachkräftemangels forscher neue Jobs oder Lohnerhöhungen einfordern, während Frauen sich zurückhalten, könnte sich die Lohnschere zwischen den Geschlechtern sogar noch weiter öffnen.

Fachkräftemangel ist gekommen, um zu bleiben

Fraglich ist ausserdem, wie nachhaltig allfällige Vorteile sind, die Frauen in der Arbeitswelt aus dem Fachkräftemangel schlagen können. «Firmen setzen derzeit auf Wiedereinsteigerinnen, weil sie keine andere Wahl haben», sagt Gudrun Sander. «Aber wenn der Arbeitsmarkt wieder kehrt und sich das System nicht geändert hat – die Kinderbetreuungskosten zum Beispiel immer noch so hoch sind – stehen wir wieder auf Feld 1.»

Aber: Der Fachkräftemangel ist gekommen, um zu bleiben. Die Corona-Pandemie hat ausserdem gezeigt, dass Arbeitnehmende nicht mehr bereit sind, Vorteile so schnell wieder herzugeben. So ist Homeoffice mittlerweile in vielen Firmen zum Standard geworden. Unter dem Strich sind sich die Expertinnen einig: Die Zeichen für Verbesserungen auf dem Arbeitsmarkt zugunsten der Frauen stehen so gut wie noch nie. Bis der Effekt sich auch in der Praxis für alle Frauen am Arbeitsmarkt bemerkbar macht, ist es aber noch ein weiter Weg.

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