«Ein Genickbruch ist kein Todesurteil!»
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Der schreckliche Sturz 2016:Lukas Müller und die Folgen nach dem Unfall

Querschnittsgelähmter Skispringer Lukas Müller
«Ein Genickbruch ist kein Todesurteil!»

Seit seinem Sturz 2016 sitzt Lukas Müller (28) im Rollstuhl. Aufgeben war für den Österreicher nie einen Option. Warum er einen 2. Geburtstag hat, weshalb er gelegentlich aus dem Rollstuhl fällt und wieso man Witze über Behinderte machen darf.
Publiziert: 01.11.2020 um 11:19 Uhr
Daniel Leu

Lukas Müller, sind Sie in Ihren Träumen gelegentlich noch Skispringer?
Lukas Müller: Ja! Das Witzige dabei: In meinen Träumen springe ich immer sehr weit, oft auch über die Sturzlinie. Die Träume sind für mich die einzige Möglichkeit, dieses Gefühl des Skispringens nochmals zu erleben. Das ist schön, denn mehr Skispringen kriege ich in meinem Leben nicht mehr.

Kommt der Rollstuhl in Ihren Träumen vor?
Gelegentlich schon. Das zeigt, dass ich ihn als ständigen Begleiter akzeptiere. Ich habe auch schon geträumt, dass ich mit dem Rollstuhl zur Schanze fahre, Skispringen gehe und mich danach wieder in den Rollstuhl setze.

Sie leiden seit dem 13. Januar 2016 unter einer inkompletten Querschnittlähmung. Welche Erinnerungen haben Sie an diesen Tag?
Ich war an der Skiflug-WM am Kulm Vorspringer. Unsere Aufgabe war es, die Schanze einzufliegen. Es war mein zweiter Flug des Tages. Als ich Richtung Schanzentisch fuhr, dachte ich: Dieser Flug wird richtig dahingehen. Nach etwa 40, 50 Meter Flug merkte ich aber: Hier stimmt etwas nicht. Mein linker Fuss rutschte langsam aus dem Schuh. Zu diesem Zeitpunkt war ein Sturz schon unvermeidbar.

Als Junior zählte Lukas Müller zu den besten Skispringern der Welt.
Foto: AP
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Sie sind dann aus rund sieben Metern Höhe mit Tempo 120 km/h abgestürzt und haben sich dabei das Genick in der Höhe des sechsten und siebten Halswirbels gebrochen. Realisierten Sie sofort, dass sich Ihr Leben nun radikal ändern würde?
Nach dem Aufschlag hatte ich null Kontrolle mehr über meine Beine, auch wenn ich sie noch irgendwie spürte. Während des Rutschens dachte ich noch: Ich muss sofort wieder rauf und springen, damit die Angst nicht siegen kann. Als ich mich dann auf den Bauch drehen wollte, ging das nicht mehr. Da wusste ich: Ich stehe am Beginn einer sehr langen Reise, zu 98 Prozent ist das eine Querschnittlähmung.

Wie wichtig ist es für Sie, dass Ihr letzter Sprung eigentlich ein guter war?
Das hilft einem schon. Er wäre wohl bis etwa 235 Meter gegangen, da ich guten Aufwind hatte. Das Verlangen, diesen Sprung zu Ende zu führen, ist trotzdem heute immer noch da.

Wissen Sie mittlerweile, warum Ihr Fuss aus dem Schuh gerutscht ist?
Es war eine Kombination aus verschiedenen Gründen. Ich gebe niemandem die Schuld dafür. Wenn das Schicksal dich trifft, kann man nichts dagegen machen. Es war einfach viel Pech auf einmal.

Es gibt ein Bild vom Sturz, das Ihnen sehr wichtig sein soll.
Es ist der Moment, der mir das Genick bricht. Ich dachte vorher immer, dies sei ein Todesurteil. Doch ich bin der lebende Beweis dafür, dass dem nicht so ist. Auf dem Bild sieht man bei genauerer Betrachtung, dass sich die Finger meiner linken Hand zum Victory-Zeichen geformt haben. Natürlich war das ein Zufall, jedoch ein recht schöner. Denn in jeder noch so schwierigen Situation gibt es einen positiven Aspekt, wenn man lange genug danach sucht.

Ist demnach der 13. Januar 2016 kein Unglückstag für Sie?
Nein, es ist mein zweiter Geburtstag, denn ich habe Glück gehabt. Ich könnte seitdem auch im Grab liegen. Doch ich bin glimpflich davongekommen, wenn man mich mit anderen Verunfallten vergleicht.

Wie oft mussten Sie in den Tagen und Wochen danach weinen?
Nur einmal, wobei «weinen» eigentlich nicht stimmt. Ich hatte einfach Tränen in den Augen.

Wann war das?
Das war im Spital, als ich nach der Operation aufwachte. Der Arzt erklärte mir lang und breit, was passiert ist. Ich unterbrach ihn dann und fragte: «Das ist schon ein Querschnitt, oder?» Da sagte er: «Ja!» Es war in dem Moment ein bisschen wie früher in der Schule, als du einen Test verhaut hast. Bevor du ihn zurückkriegst, hoffst du trotzdem noch auf eine anständige Note, aber eigentlich weisst du, dass du diese nicht kriegen wirst. Doch dann hat mir der Arzt die Augen geöffnet.

Wie?
Er hat zwar gesagt, dass ich querschnittgelähmt sei, hat dann aber sofort weitergeredet und mir erklärt, dass ich einen funktionierenden Kopf und halbwegs funktionierende Hände hätte. Mit diesem «Startkapital» liesse sich mehr oder weniger normal weiterleben. Ich dachte mir dann: Stimmt eigentlich!

Haben Sie eine Erklärung dafür, dass Sie nie gehadert haben?
Ich hatte sicher einen Startvorteil, was meine Mentalität angeht. Aber ich glaube, dass jeder zu Ähnlichem fähig ist. Es ist vor allem eine Einstellungssache und erfordert viel Kopfarbeit.

Nach einem knappen halben Jahr konnten Sie die Reha verlassen. Aufrecht und mit Krücken. Wie wichtig war Ihnen das?
Das war ursprünglich gar nicht das Ziel. Das Ziel in der Reha war es immer, aufstehen zu können, weil das alleine schon unglaublich viel wert ist. Von den fünf Zuständen, wie ich die Reha hätte verlassen können – im Rollstuhl, mit dem Rollator, mit zwei Krücken, mit einer Krücke oder freigehend –, war es ein unglaublicher Moment, selbstständig auf zwei Beinen das Rehazentrum zu verlassen. 190 Tage nach meinem Genickbruch.

Können Sie mittlerweile frei gehen?
Ja, ich kann ein paar Schritte ohne Krücken machen. Dann falle ich meistens um. Alltagstauglich ist das natürlich nicht. Ich nehme da aber oft kleine Kinder als Vorbilder. Sie stehen nach jedem Umfaller gleich wieder auf. Jedes Mal! Doch je älter wir werden, desto mehr machen wir uns Gedanken und wollen das Risiko, dass dabei etwas passieren könnte, minimieren. Dadurch nimmt man sich teils auch Chancen auf Positives.

Mit anderen Worten: Man soll auch etwas riskieren?
Ja, ich habe zum Beispiel schon einige Saltos aus dem Rollstuhl gemacht, weil ich zu schnell unterwegs war. Doch das gehört dazu, auch wenn es mit einer Ellbogen-OP endet oder in einer recht peinlichen Situation wie letztes Jahr in Salzburg, als ich mit recht hoher Geschwindigkeit mit dem Vorderreifen des Rollstuhls eine Mulde erwischte und vor vier hübschen Frauen auf der Strasse landete.

Sie haben im Juli diesen Jahres mit Krücken den Nockstein erklommen. Wie war das Gefühl, auf einem Gipfel zu stehen?
Ich war doch etwas stolz auf mich, was normalerweise gar nicht mein Ding ist. Denn es gibt wohl nicht viele Querschnittgelähmte, die ein Gipfelkreuz live sehen konnten. Es klingt zwar abgedroschen, aber es stimmt: Man sollte jedem Tag die Chance geben, der beste deines Lebens zu werden. Ich versuche, so zu leben.

Was ist noch möglich? Werden Sie in Zukunft wieder normal gehen können?
Ich muss realistisch bleiben: Ich bin querschnittgelähmt, wenn auch nur inkomplett. Nach jetzigem Stand ist das unheilbar. Und querschnittgelähmt zu sein, bedeutet mehr, als nicht mehr gehen zu können. Ich habe zum Beispiel auch in den Fingern nicht das volle Gefühl und Brust abwärts kein Temperaturgefühl mehr, hinzu kommt die Stoffwechselproblematik. Einfach aufs Klo zu gehen, ist keine Selbstverständlichkeit mehr. Was ich aber merke: Es lässt sich noch viel rausholen. Solange ich merke, dass mein Körper mein hartes Training honoriert, werde ich weitermachen.

2018 sind Sie an den Kulm zurückgekehrt. Wie war das?
Ich musste mich zwingen, dorthin zu fahren. Auf dem Weg dorthin hatte ich richtige Flashbacks. Als ich mit dem Lift nach oben fuhr und mich in den Aufenthaltsraum der Skispringer begab, verschwand die Umgebung um mich. Ich setzte mich danach auf die oberste Lucke der Schanze und schaute den Vorspringern zu. Das Zeitgefühl war komplett weg. Ich weiss nicht, wie lange ich dort oben war. Für meine Verarbeitung war es aber extrem wichtig, an diesen Ort zurückzukehren.

Letzte Frage: Darf man über Rollstuhlfahrer eigentlich Witze machen?
Natürlich, das gehört dazu und ist ein Teil der Verarbeitung. Man muss über sich lachen können, auch wenn man im Rollstuhl sitzt.

Haben Sie einen Lieblingswitz?
Da fällt mir spontan grad keiner ein. Was man aber immer wieder hört oder sagt: «Dumm gelaufen» oder «Sprüche über Rollstuhlfahrer gehen gar nicht.»

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