Zu Besuch im Tessin
Laras Kugel auf der Reise in die neue Heimat

Es fehlen wenige Punkte, dann ist Lara Gut (24) die erste Schweizer Gesamtweltcupsiegerin seit Vreni Schneider 1995. Als Belohnung winkt die grosse Kristallkugel. SonntagsBlick zeigte der Kugel schon mal ihre neue Heimat – Laras Tessin.
Publiziert: 06.03.2016 um 10:53 Uhr
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Aktualisiert: 11.09.2018 um 18:10 Uhr
Marcel W. Perren (Text) und Toto Marti (Fotos)

Den Rückstand von 28 Punkten auf Leaderin Lindsey Vonn konnte Lara gestern nicht wettmachen. Der Riesenslalom in Jasna wurde abgesagt. Huddelwetter wie in der Slowakei herrschte gestern auch im Tessin, als SonntagsBlick die grosse Kristallkugel mit Land und Leuten der Schweizer Sonnenstube bekannt machte.

Wenige Kilometer nach der südlichen Ausfahrt aus dem Gotthard-Tunnel liegen die Wurzeln unserer noch ungekrönten Ski-Königin. In Airolo hat Lara das Skifahren erlernt, im benachbarten Ambri hat ihr Grossvater, ganz in der Nähe des Eishockey-Tempels Valascia, mit einer Schreinerei die Familie ernährt.

Vor zwei Jahren hat Laras Onkel Franz das Unternehmen verkauft, der neue Besitzer musste vor ein paar Monaten Konkurs anmelden. Einer, der die «Carpentiere Gut» in deutlich besseren Zeiten erlebte, ist der aktuelle Ski-Experte des Tessiner Fernsehens – Mauro Pini hat bei der Familie Gut das Schreinerhandwerk erlernt.

Die grosse Kristallkugel im Heimatdorf von Lara: Comano TI.
Foto: TOTO MARTI
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Nach dem Schreinern hat sich Pini einen grossen Namen als Ski-Trainer erarbeitet. Sein Meisterstück lieferte er als Coach von Spaniens Riesenslalom-Königin Maria José Rienda Contreras (40) ab.

Weil Mauros Kontakt zum Gut-Clan aber nie abgerissen ist, durfte Lara schon als kleines Mädchen mit der grossen Rienda mittrainieren. Pini erinnert sich: «Lara war knapp 14, als sie mit Rienda auf der komplett vereisten Stelvio Piste in Bormio Riesenslalom trainierte.

Obwohl Rienda damals zur absoluten Elite in dieser Disziplin gehörte, konnte Lara zeitmässig schon sehr gut mithalten. Ein paar Tage nach diesem Training hat Lara in Italien des renommierteste Kinderskirennen gewonnen – und Rienda am selben Tag im schwedischen Are ihren ersten Weltcupsieg gefeiert.»

Drei Jahre später verliess Pini Spanien und Rienda Contreras, um im Privatteam von Lara Gut die Rolle des Cheftrainers zu bekleiden. Während dieser Zusammenarbeit ist die Jugendfreundschaft mit Laras Vater Pauli in die Brüche gegangen.

«Wir hatten anfänglich eine wirklich wunderbare Zeit, der Höhepunkt war 2009 bei der WM in Val-d’Isère mit Laras Silbermedaillen in der Abfahrt und Kombination. Aber nach diesen tollen Tagen in Frankreich habe ich deutlich gespürt, dass sich im Team etwas verändert. Lara selber zwar nicht, aber ihr Umfeld hatte plötzlich eine andere Philosophie als ich. Deshalb habe ich das Team Gut ein paar Monate später auch verlassen.»

Nach einem erfolgreichen Intermezzo bei den Schweizer Männern (Pini feierte bei den Olympischen Spielen 2010 als Gruppentrainer von Didier Défago und Silvan Zurbriggen Gold und Bronze) wurde er Chef beim Schweizer Frauen Team. In dieser Rolle machte ihm aber nicht zuletzt seine «Ziehtochter» Lara Gut das Leben schwer.

Als Pini im Februar 2012 in Absprache mit Präsident Urs Lehmann seinen Abfahrtstrainer Stefan Abplanalp entlassen hat, stellte sich Lara öffentlich auf die Seite von Abplanalp. «Leider hatte ich bis heute nie die Möglichkeit, um alleine mit Lara an einen Tisch zu sitzen und ein paar Missverständnisse aus dem Weg zu räumen», bedauert der 51-Jährige. Pini betont aber auch, «dass Lara und ich mittlerweile wieder ein ordentliches Verhältnis zueinander haben. Nachdem sie 2014 bei den Olympischen Spielen in Sotschi Bronze gewann, hat sie mich sogar umarmt.»

Der Leventiner wirft einen verliebten Blick auf die grosse Kugel: «Ich würde mich wahnsinnig freuen, wenn Lara diese grosse Kugel tatsächlich bald in den Händen halten darf. Sie hätte es echt verdient.»

Wir fahren mit der Kugel im Kofferraum weiter nach Minusio zu der Frau, die 1983 die erste Kristallkugel in die Schweizer Sonnenstube gebracht hat. Ihr Name: Doris de Agostini-Rosetti.

Die mittlerweile 58-jährige Frau mit dem herzlichen Lachen und den langen Beinen hat vor 33 Jahren den Abfahrts-Weltcup gewonnen, und damit eine echte Tessiner Erfolgslawine ausgelöst. «Nach meinem Rücktritt hat Michela Figini neben Olympia- und WM-Gold den Gesamtweltcup gewonnen, und jetzt sorgt Lara für Furore.

Das Unglaubliche daran: Wir drei sind alle im kleinen Skigebiet von Airolo gross geworden. Damit ist die 1550 Seelen-Gemeinde gemessen an der Einwohnerzahl die erfolgreichste Skiregion der Schweiz», hält die dunkelhaarige Grazie stolz  fest.

Doris hat in ihrer Jugend viel Zeit mit Pauli Gut verbracht. «Wenn ich Lara im Fernsehen bei Skirennen sehe, werde ich an die Zeit mit ihrem Vater erinnert», sagt Doris schmunzelnd und liefert ein paar geschichtsträchtige Details: «Während ich bereits mit zwei Jahren erstmals auf den Ski herumgerutscht bin, stand Pauli mit sieben erstmals auf den Latten.

Weil der Skisport bei seinen Eltern keinen grossen Stellenwert hatte, musste er mit alten Kleidern aus Militärstoff und Holzski mit Schraubkanten auf die Piste. Trotzdem hat es Pauli dank seiner einmaligen Leidenschaft für den Skisport zum 18-fachen Tessiner Meister gebracht. Und diese Leidenschaft erkenne ich jetzt auch, wenn ich Lara zuschaue.»

De Agostini hat die leidenschaftlich kämpfende Lara aber schon lange beobachtet: «Ich werde nie vergessen, als ich vor ungefähr 15 Jahren mit dem Auto auf einen ziemlich steilen Parkplatz in Airolo gefahren bin, auf dem Pauli seiner Tochter einen Rollerblade-Slalom ausgesteckt hat.

Lara hat diesen Parcours unzählige Male absolviert, es war sicher brutal anstrengend für sie. Trotzdem konnte sie nicht einmal der Papa stoppen, sie wollte immer noch härter trainieren. Und ihr Gesichtsausdruck wirkte auch bei der grössten Belastung immer glücklich.»

«La Bella Doris» wird auch den Moment nie vergessen, als sie Lara erstmals auf der Piste zwischen den blauen und roten Toren gesehen hat. «Das war bei einem Kinderrennen in Airolo. Während die anderen Kids durch die Tore gerutscht sind, ist die kleine Lara bereits richtig gecarvt. Da war mir klar, dass dieses Mädchen eine ganz Grosse wird, wenn sie gesund bleibt.»

Vierzig Kilometer von De Agostinis Haus entfernt steht die Firma von Enzo Filippini. Der gebürtige Leventiner hat viel Geld, dass er mit Online-Banking verdient hat, in Laras Karriere investiert.

Zudem entpuppt er sich jetzt als grosser Ski-Prophet: «Als ich Lara als Fünfjährige erstmals auf den Ski sah, habe ich total begeistert beim Tessiner Fernsehen angerufen und dem legendären Reporter Ezio Guidi gesagt: ‹Komm nach Airolo, du musst unbedingt einen Beitrag mit der zukünftigen Gesamtweltcupsiegerin Lara Gut machen.› Ezio erfüllte die Bitte und hat eine schöne Story über die kleine Lara gemacht.»

Aber vielleicht wäre aus der kleinen Lara nie eine ganz Grosse geworden, wenn Filippini im Sommer 2005 nicht erstmals Portemonnaie für die Familie Gut geöffnet hätte: «Pauli wollte mit Lara ein Trainingslager in Südamerika absolvieren, und ein Tessiner Bankdirektor hat ihm die Finanzierung von diesem Trip versprochen.

Als es dann aber vor dem Abflug ernst wurde, war der Bank-Direktor für die Guts nicht mehr erreichbar. Pauli ist deshalb in der Not zu mir gekommen. Ab diesem Zeitpunkt habe ich Lara zwei Jahre gesponsert.»

Entsprechend gross ist jetzt die Genugtuung von Maestro Filippini, dass seine Investition wohl bald in Form von einer grossen Kristallkugel gipfeln wird. Filippini ärgert sich aber auch über den mangelnden Respekt vor Laras Leistungen im Tessin.

Das Internet-Portal tio.ch (ticino-online) hat letzte Woche seinen Usern die Frage gestellt, ob Lara Gut den Gesamtweltcup verdient hätte? 63 Prozent haben mit «No» geantwortet. Filippini: «Dieses Ergebnis ist eine Frechheit, Lara hätte die Kugel total verdient. Aber die meisten Tessiner kennen sich eben leider nur beim Eishockey und Fussball aus.»

Wir fahren jetzt mit der Kugel dorthin, wo sie nach dem Weltcupfinal in St. Moritz sehr wahrscheinlich zu Hause sein wird – in Laras Elternhaus in der Via Dangio in Comano. Dort macht uns noch niemand die Türe auf. Gut Ding will eben noch ein bisschen Weile haben...

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