Verrückter Schweizer Kitzbühel-Sieg 1983 auf jugoslawischen Ski
Vor dem Streif-Triumph blamierte er sich vor einer Slalom-Fahrerin

Bruno Kernen I ist bis heute der Einzige, der die Weltcup-Abfahrt in Kitzbühel als Debütant gewonnen hat. Dabei ist ihm kurz zuvor noch eine Slalomfahrerin um die Ohren gefahren.
Publiziert: 21.01.2021 um 11:29 Uhr
|
Aktualisiert: 21.01.2021 um 20:57 Uhr
Marcel W. Perren

Für einen Abfahrer gibt es kaum eine grössere Schmach, als wenn er in Rennhocke fahrend von einem Slalom-Fahrer überholt wird!

Der Schönrieder Bruno Kernen erlebt dieses Alptraum-Szenario im Herbst 1982 auf dem Zermatter Gletscher in einer verschärften Version. «Es war mein erster Tag mit meinen neuen Abfahrtsski der Marke ‹Elan›», beginnt der mittlerweile 59-Jährige mit der Erzählung seiner aussergewöhnlichen Geschichte, wie er in Kitzbühel als Neuling sensationell siegte.

Kernen: «In den Kurven haben meine neuen Latten zwar ganz ordentlich funktioniert. Aber als ich nach dem Training in meiner tiefsten Hocke in ein besonders langes Flachstück hinein gefahren bin, war ich derart langsam, dass ich von einer Schweizer Slalom-Fahrerin, die auch noch ein Paar Ski auf ihren Schultern hatte, überholt wurde.»

Damals und heute: Bruno Kernen I zeigt in seinem Hotel ein Foto seines Sieges in Kitzbühel 1983.
Foto: Sven Thomann
1/10

Die Skis aus Jugoslawien sind schnell

Der Abfahrer beginnt seinen Markenwechsel zu bereuen. Doch sein elf Jahre älterer Teamkollege Walter «Düdel» Vesti, der schon länger auf das Elan-Fabrikat aus dem damaligen Jugoslawien abfährt, baut den «Brünel» wieder auf: «Du musst nicht nervös werden. Sobald es um die Wurst geht, bekommst du von mir einen richtig schnellen Ski.»

«Düdel» hält Wort. Kernen fährt mit den Raketen des Bündners zum Auftakt der Weltcup-Saison auf der Lagalp in die Top-15 und wird eine Woche später in Gröden Zehnter. «Kurz darauf habe ich neue Ski bekommen. Damit bin ich in Val-d’Isère Siebter geworden.»

Mit diesem Ergebnis beeindruckt der gelernte Koch auch seinen strengen Übungsleiter Karl Frehsner. Der «eiserne Karl» wollte den 21-Jährigen in dieser Saison ursprünglich vor allem im Europacup einsetzen. Aber nun bietet Frehsner den Sunnyboy aus dem Saanenland auch für die Klassiker in Wengen und Kitzbühel auf.

Kein gutes Gefühl nach dem ersten Training

Weil die Abfahrt am Lauberhorn abgesagt werden muss, finden eine Woche später am Hahnenkamm zwei Rennen statt – so wie in diesem Jahr. Vor seiner Premiere auf der «Streif» wird Kernen mit den üblichen Räubergeschichten bombardiert. «Als ich in Kitzbühel ins Team-Hotel gekommen bin, sagte einer zu mir, dass ich den Koffer gar nicht auspacken solle, weil ich ja sowieso bald im Spital landen würde...»

Nach dem ersten Training auf der «Streif» hat Kernen tatsächlich grosse Sorgen. Aber nicht aufgrund eines Abfluges. «Obwohl ich das Gefühl hatte, dass ich hier unmöglich schneller fahren kann, habe ich dreieinhalb Sekunden auf die Bestzeit verloren.» Fürs zweite Training packt der Hoteliers-Sohn einen bedeutend schnelleren Ski aus und setzt damit ein Ausrufezeichen – drittbeste Zeit! «Da habe ich mir gedacht: Wow, wenn ich jetzt im Rennen einen noch schnelleren Ski anschnalle, könnte das etwas werden mit mir und der Streif.»

Gestürzter Zimmerkollege winkt am Pistenrand

Der Renntag beginnt für Kernen aber schlecht. «Beim Einfahren hat es mich gottsjämmerlich auf die Fresse gehauen. Und eine halbe Stunde vor meinem Start ist mein Zimmerkollege Gusti Oehrli bei der Steilhang-Ausfahrt gestürzt.»

Doch der B-Kader-Fahrer ist an diesem 21. Januar 1983 trotz allem nicht zu stoppen. Der Debütant meistert mit der Startnummer 29 die Mausefalle und den Steilhang wie ein Routinier. «Im Brückenschuss habe ich gesehen, dass mir Gusti Oehrli am Pistenrand stehend zuwinkt. Für einen kurzen Moment habe ich daran gedacht, ob ich zurückwinken soll!»

Aber weil der Berner Oberländer seinen Streifzug dann doch in der optimalen Position durchzieht, muss der führende Kanadier Steve Podborski seine Sieger-Interviews abbrechen – Grünschnabel Kernen stellt im Ziel eine neue Bestzeit auf, die keiner mehr unterbieten kann.

Vom Skiverband gibts eine Sieges-Prämie

«Auf einmal ist ein riesiger Rummel um meine Person ausgebrochen. Plötzlich haben mir Menschen auf die Schulter geklopft, die mich zuvor nicht mit dem Allerwertesten angeschaut haben», schildert der damalige Sieger.

Es ist kurz vor 22 Uhr, als sich Kernen im Doppelzimmer neben seinen treuen Weggefährten Oehrli legt, dem es nach seinem Sturz nicht gut geht. «Gusti wusste vor lauter Schmerzen nicht, in welcher Position er liegen soll.» Vor dem Lichterlöschen überrascht Oehrli Kernen mit einem Geständnis: «Brünel, ich habe dir vom Pistenrand aus gewunken, weil ich dich aufhalten wollte. Ich war mir sicher, dass für dich bei diesen Scheiss-Bedingungen kein Top-Resultat möglich ist.»

Der Schweizer Ski-Verband belohnt Kernen für diesen geschichtsträchtigen Sieg mit einer Prämie von 10´000 Franken. «Abzüglich der Steuern sind mir 6000 Franken geblieben. Für mich war das damals sehr viel Geld», sagt er heute.

Und noch etwas: «Vor meinem Kitzbühel-Sieg habe ich vom Verbands-Ausrüster nur die Pullover und Trainerhosen erhalten, die man Rumäniens Fussball-Nationalmannschaft nicht mehr andrehen konnte. Aber danach hat man mir jeden noch so ausgefallenen Wunsch erfüllt.»

Seit seinem Rücktritt 1989 führt der zweifache Familienvater, der mit Bruno Kernen II (Abfahrts-Weltmeister 1997) nur entfernt verwandt ist, das elterliche Hotel in Schönried.

Fehler gefunden? Jetzt melden
Was sagst du dazu?