Foto: Getty Images

Interview mit Marcel Hirschers Vater Ferdinand
«Unsere Selbstzweifel sind ganz wichtig»

Er ist der Vater des Erfolges: Marcel Hirschers Papa Ferdinand geht als Coach und Material-Tüftler oft ungewöhnliche Wege. Im Interview erzählt er, warum er sogar Stecken testet.
Publiziert: 27.01.2019 um 00:45 Uhr
RMS_Portrait_AUTOR_1182 (1).JPG
Marcel W. PerrenReporter Sport

BLICK: Ferdinand, wird im erfolgsverwöhnten Team Hirscher ein 2. Rang in Kitzbühel als Niederlage gewertet?Ferdinand Hirscher: Im Gegenteil, ein Podestplatz bei diesem Klassiker wird auch bei uns als grosser Erfolg gewertet. Es ist weiss Gott keine Schande, wenn Marcel Zweiter hinter einem so begnadeten Skirennfahrer wie Noël wird. Dieser junge Bursche imponiert mir wirklich, weil er so zentral über dem Ski steht und praktisch keine Fehler macht.

Können Sie sich eigentlich noch an den ersten Skitag mit Ihrem Marcel erinnern?
Diesen Tag werde ich nie vergessen! Obwohl Marcel damals erst zwei Jahre jung war, hatte er auf seinen kleinen Ski bereits eine erstaunlich gute Ausdauer und ein super Gleichgewicht. Und wenn er trotzdem einmal stürzte, ist er ohne meine Hilfe wieder auf die Beine gekommen. Ich habe also schon früh gespürt, dass dieser Bub eine aussergewöhnlich starke Energie besitzt.

War dieser energische Bub für Sie auch schwierig zu erziehen?
Überhaupt nicht. Wir haben in dieser Zeit im Sommer oberhalb unseres Heimatorts Annaberg auf der Stuhlalm eine Gaststätte geführt. Der kleine Marcel war uns dort eine grosse Hilfe. Er hat gekellnert, die Tische abgeräumt und gleichzeitig seinen jüngeren Bruder Leon versorgt. Und in seiner Freizeit hat er dort oben in ganz besonderer Weise seine Geschicklichkeit gefördert.

Marcel Hirscher und sein Vater pflegen ein enges Verhältnis.
Foto: AFP
1/10

Wie?
Ich habe ihm ein 300 Meter langes Stahlseil gespannt, auf dem er praktisch in jeder freien Minute seine Balance trainierte. Es hat nicht lange gedauert, bis Marcel auf diesem Seil vor- und rückwärts 2000 Meter zurückgelegt hat, ohne dass er ein einziges Mal abgestiegen ist.

Und wie geschickt war Ihr Sohn in der Schule?
In der Volks- und Hauptschule war er Durchschnitt. Als er später in die Hotelfachschule ging, hatte Marcel zeitweise schlechte Noten, weil er so oft wegen der Skirennen gefehlt hat. Bei den Abschlussprüfungen waren seine Noten aber top!

Sie haben Ihren Sprössling auf dem Weg zur Weltspitze immer als Servicemann und Trainer begleitet. Wie sieht Ihr Anstellungsverhältnis jetzt aus?
Ich verbringe 50 Prozent in unserer Skischule in Annaberg, die andere Hälfte meines Arbeitspensums an Marcels Seite. Aufgrund meiner Flugangst lasse ich die Überseerennen aus, bei den Wettkämpfen in Europa bin ich aber fast immer dabei. An die WM in Are fahre ich übrigens mit dem Auto.

Bekommen Sie Ihren Lohn vom ÖSV oder Ihrem Sohn?
Der Marcel bezahlt mir für meine Tätigkeit jeweils eine schöne Anerkennung. Mehr gibt es zu diesem Thema nicht zu sagen.

Okay. Sie werden im Skizirkus als akribischer Tüftler bezeichnet. Stimmt es, dass Sie sogar die Skistöcke Ihres Sohns testen?
Ja, das habe ich tatsächlich gemacht. Bei meinen letzten Tests hat die unterschiedliche Form der Stecken auf einer Gleiterstrecke von dreissig Fahrsekunden ein paar Hundertstel ausgemacht. Die Stöcke können theoretisch den Unterschied zwischen dem ersten und dem zweiten Platz ausmachen.

Angeblich haben Sie auch ganz genau im Kopf, welcher Ski auf aggressivem Schnee funktioniert und welches Gerät am besten geeignet ist für Eispisten.
Im Kopf habe ich diese Daten nicht, aber die Eigenheiten der Ski werden nach jedem Training genau in einem Notizblock niedergeschrieben. Wenn ich vor einem Rennen dieses Buch aufschlage, weiss ich ganz genau: Der Ski XY ist da und dort bei aggressiven Bedingungen und im Frühjahr und auf Eis gut gegangen. Aber bei ruppigen, harten Bedingungen hat er nicht funktioniert. Die meisten Leute können sich ja gar nicht vorstellen, wie schwierig es ist, das passende Set-up zu finden. Es gibt sprödes Eis, splitterndes Eis, gläsernes Eis. Und wenn ein Ski auf gläsernem Eis funktioniert, heisst das noch lange nicht, dass er auf sprödem Eis auch passt.

Nach seinem Sieg Anfang Januar in Zagreb hat Marcel in einem Interview behauptet, dass bei ihm trotz dieses Erfolges irgendetwas nicht stimmt. Viele Experten bezeichnen ihn deshalb als Tiefstapler. Ärgert Sie das?
Mit Tiefstapeln hat das nichts zu tun. Die Selbstzweifel begleiten ihn und mich tatsächlich trotz der vielen Erfolge sehr häufig. Aber diese Selbstzweifel sind ganz wichtig. Wir müssen immer wieder von neuem heraustüfteln, ob wir auf dem richtigen Weg sind. Wenn man nicht zweifelt, beginnt man plötzlich kleine, aber entscheidende Details zu übersehen. Deshalb halten wir den Ball lieber flach, als euphorische Reden zu schwingen.

Zu Hirschers Privat-Team gehören neben Sohn und Vater ein Ski-Trainer, ein Physiotherapeut, ein Konditionstrainer, ein Pressebetreuer und zwei Servicemänner. Welche Rolle spielt eigentlich Ihre Frau?
Die ist für die Fanpost von Marcel zuständig. Sie beantwortet die vielen E-Mails und verschickt Autogrammkarten. Und selbstverständlich kocht Sie dem Marcel immer wieder ein hervorragendes Essen.

Wie oft ist Marcel, der ja seit letztem Herbst Vater eines Sohnes ist, noch bei Ihnen zu Hause?
Wenn er in der Region Annaberg trainiert oder auf der Durchreise ist, schaut er nach wie vor gerne vorbei. Er hat sich trotz der grossen Erfolge überhaupt nicht verändert. Marcel hat alles gewonnen – einzig ein Sieg in der Abfahrt fehlt ihm noch. Dass er auch in der Abfahrt Potenzial hätte, hat man bei seinen starken Auftritten 2015 bei der WM-Kombination auf einer der schwierigsten Abfahrten in Beaver Creek oder bei der letzten Olympia-Kombi-Abfahrt gesehen. Aber ich habe mich in seiner Anwesenheit trotzdem nie für den Schritt auf die Abfahrt ausgesprochen, das hätte von ihm aus kommen müssen. Man stelle sich vor, Marcel wäre aufgrund meines Drucks auf die Abfahrt gegangen und hätte sich schwer verletzt – damit hätte ich niemals leben können.

Diese Aussage spricht dafür, dass Sie Ihren Sohn viel weniger hart coachen, als viele Aussenstehende glauben – oder?
Ja. Ich habe Marcel auch immer wieder darauf aufmerksam gemacht, dass der Sport nichts mit dem wahren Leben zu tun hat. Wir haben die harte Realität in unsere Familie ja kennengelernt.

Inwiefern?
Mein Bruder hat vor Jahren durch einen Sturz vom Dach ein derart heftiges Schädel-Hirn-Trauma erlitten, dass er seither ein Komapatient ist. Das sind die wahren Probleme im Leben, der Skisport ist dagegen nur ein Spiel. Im Vergleich zu dem ist es geradezu lächerlich, wenn man sich darüber ärgert, wenn ein Ski einmal nicht so richtig läuft.

Ist es für Sie denkbar, dass Marcel seine Karriere im Frühling beendet, weil er mehr Zeit mit seiner Familie verbringen möchte?
Ich habe Marcel noch nie auf dieses Thema angesprochen, das ist einzig und alleine seine Entscheidung.

Aber könnten Sie sich vorstellen, dass Sie nach Marcels Rücktritt als Trainer für ein anderes Team arbeiten? Zum Beispiel als Technik-Trainer in der Schweiz?
Ich habe zwischen 1980 und 1987 als Holzer in Graubünden, im Jura und in der Region Zürichsee gearbeitet, deshalb verstehe ich eure Sprache. Und in der Schweiz gibt es derzeit sehr viele vielversprechende Talente. Ich kann es mir trotzdem nicht vorstellen, dass ich ein Angebot aus der Schweiz oder einem anderen Land annehmen würde.

Warum nicht?
Nach dem Rücktritt von Marcel werde ich wohl so viel Kraft und Energie verbraucht haben, dass ich nichts mehr anderes tun will. Ich bin ja jetzt schon 63 Jahre alt.

Externe Inhalte
Möchtest du diesen ergänzenden Inhalt (Tweet, Instagram etc.) sehen? Falls du damit einverstanden bist, dass Cookies gesetzt und dadurch Daten an externe Anbieter übermittelt werden, kannst du alle Cookies zulassen und externe Inhalte direkt anzeigen lassen.
Fehler gefunden? Jetzt melden
Was sagst du dazu?