«Meine Trainer schliefen auf der Couch»
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Ski-Grieche Ginnis gibt zu:«Meine Trainer schliefen auf der Couch»

AJ Ginnis hat vom Strand aus die Alpine Weltspitze erreicht
Zu Besuch bei Griechenlands Ski-Sensation!

AJ Ginnis hat im letzten Winter das verrückteste Kapitel in der Alpin-Geschichte geschrieben: In der Rolle des krassen Aussenseiters hat der Grieche den Sprung aufs WM- und Weltcup-Podest geschafft! Sonntagsblick hat den Slalomspezialisten in seiner Heimat besucht.
Publiziert: 17.10.2023 um 17:05 Uhr
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Aktualisiert: 18.10.2023 um 10:38 Uhr

Die Reporterin vom griechischen Fernsehen fällt während ihrer morgendlichen Trainingseinheit vor lauter Aufregung vom Laufband. Warum? Die TV-Frau erkennt während ihrer Intervall-Einheit, dass im Aussenbereich des Fitnesszentrums Griechenlands Sport-Sensation des Jahres seine Muskeln stählt – Alexandros Joannis Ginnis heisst der Ausnahmeathlet, der im letzten Winter bei der Alpin-WM in Courchevel mit Slalom-Silber die allererste Wintersport-Medaille für das Land der Götter und Mythen gewonnen hat.

Die Journalistin kann nicht glauben, dass es sich bei diesem Ski-Helden um einen echten Griechen handelt. Zumal dieser seinen Vornamen im Stil eines Amerikaners mit AJ abkürzt. Deshalb stellt sie Ginnis nach dem schweisstreibenden Training auf Englisch zur Rede. Der 28-Jährige antwortet aber in akzentfreiem Griechisch: «Ich weiss, dass mich viele für einen eingebürgerten Amerikaner halten. Dabei bin ich wirklich hier in Griechenland aufgewachsen.»

Am 4. Februar 2023 hat AJ Ginnis beim Slalom in Chamonix erstmals richtig Grund zum Jubeln: Der Grieche fährt mit der Startnummer 45 auf den zweiten Rang!
Foto: AFP
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Das reale Ski-Märchen beginnt auf dem Parnassos Berg

Sein Elternhaus steht im schmucken Athener Vorort Vouliagmeni. Seit ein paar Jahren verbringt er den grössten Teil der Sommerzeit im malerischen Küstenort Alepochori, eineinhalb Stunden von der Hauptstadt entfernt. Am Strand stehend, streckt Ginnis seine Finger in Richtung des höchsten Bergs in der Region. «Dieser Berg trägt den Namen Parnassos, hier habe ich als kleiner Bub Skifahren gelernt. Mein Vater hat da oben an den Wochenenden eine Skischule betrieben.» Ginnis Senior, der zu diesem Zeitpunkt Griechenlands Generalimporteur für Fischer-Ski ist, erkennt schnell, dass sein Jüngling auf dem Schnee mit sehr viel mehr Geschick zu Werke geht als der durchschnittliche Grieche.

Mit zwölf Jahren muss der Knirps aus dem südlichsten Zipfel Europas aber die Erfahrung machen, dass er im sportlichen Vergleich mit den Jahrgängen aus den Alpen ziemlich schlecht aussieht. «Nachdem mein Vater in Kaprun ein Ski-Shop übernommen hat, habe ich die Winterzeit bei ihm in Österreich verbracht. Weil ich bis dahin in Griechenland nur frei Ski gefahren bin, hat mir bei meinen ersten Torläufen das passende Timing gefehlt. Deshalb habe ich in meiner ersten Rennsaison im Salzburgerland ausnahmslos den letzten Platz belegt.»

Leidenszeit in Österreich

Ginnis bestellt im Strandcafé einen Espresso. Nach einem Schluck beginnt er dem Berichterstatter aus der Schweiz seine Lebensgeschichte zu erzählen. «Die Anfangszeit in Österreich war für mich auch deshalb sehr hart, weil ich kein Wort Deutsch gesprochen habe.» Auch deshalb meldet ihn sein Vater beim Basketballklub in Zell am See an. «Dort habe ich mich mit einigen Mitspielern angefreundet und dadurch die Sprache immer besser gelernt.» Und der kleine Beach Boy lernt auch ziemlich schnell, wie man auf der Skipiste gegen die anfänglich übermächtigen Ösis besteht: «In meiner dritten Saison habe ich meine ersten Siege im Salzburger Landescup verbucht.»

Doch kaum hat sich das exotische Slalom-Talent in Österreich etabliert, muss er den nächsten Tapetenwechsel verkraften.

Weltcup-Debüt für die USA

Nach der Scheidung seiner Eltern übersiedelt Ginnis mit seiner aus Nordamerika stammenden Mutter in die USA. Die Mama doziert als Professorin der Zahnmedizin an der Universität in North Carolina, AJ besucht in Vermont die Green Mountain Valley School, die auf den Skirennsport spezialisiert ist. Er schafft den Sprung in den Nachwuchskader des amerikanischen Skiverbandes. Mit 16 feiert er seinen ersten Triumph an einem FIS-Rennen. Im Winter 2014/15 debütiert er in Madonna di Campiglo (It) im Weltcup und gewinnt bei der Junioren-WM in Hafjell Bronze.

Dieser Erfolg wird jedoch durch den unerwarteten Tod des Vaters überschattet. Und weil Ginnis von zwei Kreuzbandrissen zurückgeworfen wird, sieht er im Frühling 2020 im US-Team keine Perspektive mehr. Für die Rettung seiner sportlichen Laufbahn sieht der Doppelbürger in dieser Situation nur eine Möglichkeit – die Rückkehr nach Griechenland.

Kein Kredit von Griechenlands Ski-Verband

Sein erstes Gespräch mit dem Präsidenten des griechischen Verbands verläuft aber nicht wunschgemäss. «Der Präsident hat mir klargemacht, dass der Verband bis auf Weiteres kein Geld für einen Slalom-Fahrer wie mich ausgeben werde». AJ gibt trotzdem nicht auf und treibt eigenhändig ein paar potente Geldgeber auf. Somit kann er sich mit Gaby Coulet (Assistent) und Sandy Vietze (Head-Coach und Ski-Servicemann) zwei Betreuer leisten. «Sandy war früher wie ich Rennfahrer in der Nor-Am-Serie. Als ich ihn nach ein paar Bier an einer Bar als Coach und Servicemann verpflichtet habe, hatte er noch keine Erfahrung mit der maschinellen Ski-Präparation. Und er hat bis dahin auch noch nie einen Slalom-Kurs gesetzt. Aber ich habe gewusst, dass er schnell lernt und dass er ein besonders harter Arbeiter ist.»

Wie hart in der Ginnis-Truppe gearbeitet wird, belegt folgendes Beispiel: «Um die Hotel- und Flugkosten einzusparen, ist es schon vorgekommen, dass meine Trainer die 2700 Kilometer von Österreich zur Trainingsstrecke im schwedischen Kabdalis ohne längeren Zwischenhalt mit dem Auto zurückgelegt haben. Sie haben dafür 40 Stunden benötigt.» Die erste Erfolgsprämie für derart aussergewöhnliche Einsätze erhalten die Ski-Griechen im Januar 2021, als sich AJ beim Slalom in der Flachau (Ö) als Elfter erstmals in den Top-15 von einem Weltcuprennen klassiert. Griechenlands knausriger Ski-Boss erhöht nach diesem Achtungserfolg das Slalom-Budget von 0 auf 40'000 Euro.

Olympia-Einsatz auf einem Ski

Nur ein paar Monate später steht Ginnis wegen seines dritten Kreuzbandrisses jedoch ein weiteres Mal am sportlichen Abgrund. «Kurz nach dieser schmerzlichen Diagnose wurde mir eine tolle Praktikumsstelle bei einem Finanzunternehmen in New York angeboten. Da habe ich zu mir gesagt: «AJ, hör auf mit dem Rennsport, schliesslich bist du jetzt schon 27.» Doch dann erhält Ginnis vom US-TV-Kanal NBC eine Offerte, die zu einem neuerlichen Sinneswandel führen sollte. «NBC hat mich gefragt, ob ich als Alpin-Experte bei den Olympischen Spielen in Peking arbeiten möchte. Ich habe zugesagt, weil ich mir sicher war, dass ich mich als Athlet nie mehr für Olympische Spiele qualifizieren würde. Deshalb wollte ich dieses Spektakel wenigstens in der Kommentatoren-Rolle erleben.»

Ginnis sorgte bei seiner Olympia-Premiere für einige atemberaubende Momente: «Weil ich mein rechtes Knie aufgrund vom Kreuzbandriss noch nicht belasten konnte, habe ich auf einem Ski die steilen, ziemlich vereisten Olympia-Pisten besichtigt. Die Trainer haben mich für komplett verrückt erklärt. Aber ich habe in diesen Momenten deutlich gespürt, dass mein Herz halt eben doch noch für den Skirennsport schlägt.»

Die grosse Wende

Nach der Heimkehr von Peking suchte der Kämpfer deshalb als Erstes das Gespräch mit seiner Mutter. «Ich habe ihr erklärt, dass ich es eben doch noch einmal als Skirennfahrer probieren möchte. Glücklicherweise hat sie mir genau wie die beiden Trainer die volle Unterstützung zugesichert.»

Diese Entscheidung entpuppt sich am 4. Februar 2023 erstmals als Volltreffer – Ginnis fährt beim Weltcup-Slalom in Chamonix hinter Ramon Zenhäusern und vor Daniel Yule auf den zweiten Rang! An diesem Tag kann AJ zudem auf unkonventionelle Weise ein neues Mitglied für sein Team gewinnen. «Als ich am Abend mit meinen Trainern in Chamonix an einer Bar den ersten Podestplatz gefeiert habe, sind wir zufällig einem kanadischen Touristen Namens Jeremy Law begegnet. Er hat uns erzählt, dass er als Physio-Therapeut arbeitet. Weil ich im Hinblick auf den Saisonhöhepunkt in Courchevel einen Physio besonders gut gebrauchen konnte, habe ich ihn gefragt, ob er mich zur WM begleiten würde, wenn ich ihm das Hotelzimmer zur Verfügung stelle. Jeremy hat sofort Ja gesagt!»

Zwei Sensationen in zwei Wochen

Zwei Wochen nach der legendären Nacht von Chamonix erreicht das griechische Ski-Märchen mit AJs WM-Silbermedaille den vorläufigen Höhepunkt. Der Erste, der nach diesem besonders geschichtsträchtigen Ereignis mit den neuen Nationalhelden ein Erinnerungsfoto schiessen will, ist der Mann, der bis dato nur wenig zu dieser Sensation beigetragen hat. Die Rede ist von Griechenlands Ski-Verbandspräsident George Nikitidis.

«Ich habe für das Foto mit dem Präsidenten unter der Bedienung eingewilligt, dass er uns künftig ein höheres Budget zur Verfügung stellt», sagt Ginnis. Dummerweise scheint sich der höchste Entscheidungsträger von GRE-Ski jetzt nicht mehr an diese Abmachung erinnern zu können. Mr. Nikitidis hat das Budget für seinen Top-Star im Hinblick auf den kommenden Winter nur geringfügig auf 70'000 Euro erhöht. «Mit diesem Geld vom Verband können wir lediglich 25 Prozent der Spesen abdecken. Der Präsident und der Verband haben nach meinen Erfolgen nicht die entsprechenden Massnahmen genutzt, um mehr finanzielle Mittel zu erhalten.».

Dafür konnte Ginnis in Eigenregie Weltkonzerne wie Coca Cola, Audi, Clif Bar und den griechischen Investor Prodea als Partner für sich und sein Team gewinnen. Somit dürfte die griechische Slalom-Sage mindestens bis zu den Olympischen Spielen 2026 weitergehen.

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