Rad-Klassiker Paris-Roubaix steht vor der Tür
So verrückt ist die Hölle des Nordens

Schweizer Sternstunden, ein Pferdemist-Drama, einen verrückten Hochzeitsantrag und tierische Begegnungen. Ein Blick zurück in die Geschichte von Paris-Roubaix.
Publiziert: 16.04.2022 um 15:37 Uhr
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Aktualisiert: 16.04.2022 um 16:38 Uhr
Mathias Germann aus Roubaix

Ab durch die Wand! Henri Pélissier (18889-1935) ist 1919 mit zwei Fluchtkollegen unterwegs nach Roubaix, als die drei von einer Bahnschranke gestoppt werden. Nicht nur das: Auch ein Zug steht bockstill vor ihnen. Und was macht Pélissier? Der Franzose schultert sein Rad, öffnet die Türe eines Zugabteils und steigt auf der anderen Seite wieder aus. Seinen Mitstreitern ist das zu riskant, sie warten lieber, bis der Zug abfährt. Später holen sie Pélissier ein – doch es nützt nichts, er gewinnt trotzdem.

Spartacus siegt und wird beschuldigt! Fabian Cancellara (41) ist lange Zeit «Mr. Paris-Roubaix», er gewinnt das Rennen drei Mal (2006, 2010, 2013). Dennoch wird ihm bei seinem Sieg 2010 Motor-Doping vorgeworfen, weil er wie ein Schnellzug 50 Kilometer vor dem Ziel allen davonfliegt. «Spartacus», wie er von seinen Fans genannt wird, lächelte darob nur müde. Belege zu den Vorwürfen gab es nie. Zehn Jahre später kam der Rad-Weltverband zum Schluss: Es gibt kein mechanisches Doping im Radsport. «Mit 99-prozentiger Wahrscheinlichkeit», sagte UCI-Mann Jean-Christophe Péraud. Er hatte jahrelang Motoren, Generatoren und Batterien gesucht.

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Elise Chabbey Vierte bei Paris-Roubaix

Die Genfer Radrennfahrerin Elise Chabbey fährt bei Paris-Roubaix, das in diesem Jahr erst zum zweiten Mal auch für Frauen ausgetragen wird, auf den 4. Platz.

Die 28-jährige ehemalige Kanutin erreicht das Ziel nach knapp 125 Kilometern in einer sechs Fahrerinnen umfassenden Sprint-Gruppe, 23 Sekunden hinter der italienischen Siegerin Elisa Longo Borghini. (SDA)

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Die Genfer Radrennfahrerin Elise Chabbey fährt bei Paris-Roubaix, das in diesem Jahr erst zum zweiten Mal auch für Frauen ausgetragen wird, auf den 4. Platz.

Die 28-jährige ehemalige Kanutin erreicht das Ziel nach knapp 125 Kilometern in einer sechs Fahrerinnen umfassenden Sprint-Gruppe, 23 Sekunden hinter der italienischen Siegerin Elisa Longo Borghini. (SDA)

Achtung, Zug! Gleich noch einmal Cancellara. 2006 ist der Berner allein auf weiter Flur voraus, als er ungewohnte Hilfe erhält. Warum? Seine Verfolger Leif Hoste (44, Be), Peter van Petegem (52, Be) und Wladimir Gussew (39, Russ) werden von einer geschlossenen Bahnschranke gestoppt. Ihnen ist das allerdings egal, sie überqueren die Gleise trotzdem und werden disqualifiziert. Dennoch sind sie sich einig: «Cancellara hätte so oder so gewonnen!»

Ein Pflasterstein, der die Welt bedeutet. Fabian Cancellara siegt dreimal in der Hölle des Nordens.
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Klartext! Das berühmteste Zitat über Paris-Roubaix stammt wohl von Theo de Rooij (64). Nachdem der Holländer am 14. April 1985 verschlammt und frustriert das Rennen aufgibt, sagt er: «Dieses Rennen ist ein Witz. Du schuftest wie ein Tier. Du hast nicht mal Zeit, zu pinkeln, sondern machst dir in die Hose. Du rutschst durch den Schlamm. Es ist ein Haufen Scheisse.» Nach seinem Wutausbruch wird er von einem Journalisten gefragt, ob er je wieder bei Paris-Roubaix starten wird. De Rooij: «Ja, denn es ist das schönste Rennen der Welt!»

Amputation? Wortwörtlich «scheisse» ist, was Top-Favorit Johan Museeuw (56) am 12. April 1998 passiert. Im berühmt-berüchtigten Wald von Arenberg stürzt der «Löwe von Flandern» und muss das Rennen aufgeben. In der Zeitung «Le Monde» erzählt der Belgier viele Jahre später: «Wir kamen mit 50 Sachen dorthin an und es lag eine Menge Pferdemist auf der Strecke. Ich bin gerutscht und gestürzt – aber vor lauter Adrenalin habe ich keinen Schmerz gespürt und wollte weiterfahren. Ich bin aufgestanden, habe auf mein Knie geschaut: Es war komplett offen, man sah den Knochen.» Die infizierte Wunde bereitet den Ärzten grosse Sorgen – ehe sie das richtige Antibiotikum finden, steht sogar eine Amputation im Raum. Doch Museeuw wird wieder gesund und gewinnt das Rennen noch zweimal. Mit drei Siegen ist er wie Cancellara einer der ganz Grossen bei Paris-Roubaix. Häufiger (4 Mal) haben nur die Belgier Roger de Flaminck (1972, 1974, 1975, 1977) und Tom Boonen (2005, 2008, 2009, 2012) gewonnen.

Schmuggel! Charles Crupelandt (1886-1955, Fr) lebt nicht nur in Roubaix, sondern gewinnt den Klassiker auch zweimal (1912 und 1914). Ein Pavé-Sektor kurz vor der Einfahrt ins Vélodrome ist noch heute nach ihm benannt. Dabei wird ihm nach dem Ersten Weltkrieg zwischenzeitlich die Rad-Lizenz entzogen. Warum? Weil er im Grenzgebiet zwischen Frankreich und Belgien geschmuggelt hatte, um der Armut zu entkommen.

Stein statt Ring! 2011 gewinnt Johan Vansummeren (41, Be) zur Überraschung vieler in Roubaix. Doppelt verdutzt ist allerdings seine Partnerin Jasmine Vangrieken. Weshalb? Weil ihr Liebster sie wenige Augenblicke nach seinem Triumph um ihre Hand bittet. «Einige schenken beim Heiratsantrag einen Ring. Ich gab ihr einen Stein», sagt er. Der Hintergrund: Der Sieger von Paris-Roubaix erhält traditionell keinen Pokal, sondern ein Pflasterstein.

Tierisch! Erstmals ausgetragen wird das Rennen 1896. Da die Veranstalter «leichtes Rennen» wollen, führt es über die damals kurze Strecke von 280 Kilometern. Pavé-Abschnitte gibt es nur ganz zum Schluss. Der Start erfolgt um 4:00 Uhr morgens, Sieger Josef Fischer (De, 1865-1953) braucht 9 Stunden und 17 Minuten, ehe er Roubaix erreicht. Dabei wird er zwischenzeitlich von Kühen aufgehalten – ein Pferd tritt ihn zudem fast vom Sattel.

Der andere Coppi! Serse Coppi (1923-1951) steht während seiner ganzen Karriere im Schatten seines legendären Bruders Fausto Coppi (1919-1960). Doch 1949 schlägt Serses grosse Stunde – weil er protestiert! Der Hintergrund: Das Spitzentrio mit André Mahé (1919-2010, Fr) wird kurz vor dem Vélodrome von Roubaix falsch geleitet und verlässt dadurch die offizielle Strecke. Mahé siegt trotz des Umwegs. Serse Coppi, der den Sprint der Verfolger gewinnt, legt als Vierter aber Protest ein und bekommt Recht. Nach langem juristischem Hickhack erhalten beide den Sieg zugesprochen.

Lenker bricht, Schulter auch! US-Boy George Hincapie (48) ist in den Nullerjahren einer der wichtigsten Helfer von Superstar Lance Armstrong. Dass beide systematisch gedopt haben, ist mehr als nur verwerflich. Als Hincapie allerdings 2006 während eines Pavé-Abschnitts einfach der Lenker wegbricht, haben viele Mitleid. «Das ist das Rennen, von dem ich das ganze Jahr über träume und auf das ich mich freue», so Hincapie. Nützt nichts. Hincapie verletzt sich bei seinem Sturz schwer an der Schulter. Den Rad-Klassiker wird er nie gewinnen.

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