Ex-Rad-Star schüttet in Zürich sein Herz aus
«Ich war im Himmel, in der Hölle und bin nun auf der Erde gelandet»

Ja, auch Jan Ullrich (49) hat gedopt. Der ehemalige Velo-Held Deutschlands spricht über seine späte Beichte, seine Alkohol- und Kokainsucht und sagt, dass er um ein Haar gestorben wäre.
Publiziert: 25.11.2023 um 16:46 Uhr
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Aktualisiert: 25.11.2023 um 17:16 Uhr

Freitagabend, 17.53 Uhr, Langstrasse Zürich, Nieselregen, 4 Grad. Die erste Party-Nacht des Wochenendes wird eingeläutet. Junge Menschen ziehen gut gelaunt durch die berühmteste Ausgangsmeile der Schweiz. Gleich nebenan, an der Ecke zur Lagerstrasse, betritt ein ehemaliger Rad-Held das Foyer des Kinos Frame im ehemaligen Zürcher Kulturtempel Kosmos: Jan Ullrich (49).

Blauer Blazer, weisses T-Shirt, blaue Hose, weisse Sneakers. Ullrich wirkt aufgeräumt, offen, glücklich gar. «Ich habe lange in der Schweiz gewohnt und habe viele Freunde hier», sagt er und schüttelt viele Hände. Viele aus der Rad-Szene sind da: Martin Elmiger (45), Michael Schär (37), Silvan Dillier (33) und andere. Auch Fussball-Legende Günter Netzer (79) lässt es sich nicht nehmen, zwei der vier Teile der neuen Doku-Serie «Jan Ullrich - Der Gejagte» auf der Leinwand sehen – sie läuft ab Dienstag auf Amazon Prime. 

Nach einer halben Stunde ruft Breitling-Chef Georges Kern gut gelaunt: «Bitte alle langsam alle in Richtung Saal sechs laufen!» Später wird er seinen Freund auf dem Podium interviewen. Vorher gibt es packende Bilder und schonungslose Offenheit. Ullrichs Werdegang vom Supertalent zum Tour-de-France-Sieger 1997 wird ebenso gezeigt wie sein Absturz in den Doping-Sumpf.

Jan Ullrich betritt das Kino Frame an der Ecke Langstrasse/Lagerstrasse in Zürich. Er ist gut gelaunt.
Foto: BENJAMIN SOLAND
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Schliesslich spricht er über seine allergrösste Krise nach der Karriere – sie hätte ihm fast das Leben gekostet. «Ich war im Himmel, wurde überall gefeiert. Doch ich fiel tief, wurde Alkohol- und drogenabhängig. Es war die Hölle», sagt er. Und wie fühlt er sich heute, wenige Tage vor seinem 50. Geburtstag? «Da bin ich wieder auf der Erde gelandet, einfach in der Mitte», sagt er zu SonntagsBlick. Und fügt an: «Ich bin froh, dass die Doku ‹Jan Ullrich – Der Gejagte› heisst und nicht ‹Der fünfte Todestag von Jan Ullrich›. Denn ich wäre um ein Haar gestorben.»

«Irgendwann ist jedes Fass voll»: Ullrich gibt alles zu

Viele Jahre lang war Ullrich nicht bereit, in der Öffentlichkeit ehrlich zu sein. Heute schüttet er sein Herz aus und gibt zu, was viele vermutet haben und einige seiner Fans bis vor kurzem nicht wahrhaben wollten: «Ich habe gedopt.» Er sagt es 17 Jahre nach seinem Rücktritt im Jahr 2006. Wie konnte er so lange mit dieser Lüge leben, während viele seiner damaligen Konkurrenten längst ausgepackt haben? 

Er sei ein sehr guter Verdränger, sagt Ullrich. Oder besser – er war es. «Irgendwann ist jedes Fass voll», sagt er. Rückblick. Am 11. August 2018 titelte die Bild-Zeitung: «Jan Ullrich in Psycho-Klinik». Zu dieser Zeit hatte das ehemalige Rad-Genie fast alles verloren: Ruf, Ehefrau, Freunde – vor allem aber die Achtung vor sich selbst. «Es ging mir richtig Scheisse. Ich habe Kokain in Massen genommen und Whiskey wie Wasser getrunken. Es ging um Leben und Tod.»

Ullrich spricht über jene Momente im Sommer 2018, als er sich in seiner Finca in Mallorca zudröhnte. Als er so high war, dass er auf dem Grundstück seines Nachbarn, dem Schauspieler Til Schweiger (59), Gäste anpöbelte – die Polizei nahm ihn fest. In der «Bild» schilderte Ullrich später: «Die Zelle war mit Kacke beschmiert. Das war kalt da unten im Keller. Da musstest du rauspinkeln zwischen den Gitterstäben, wenn du musstest.»

Eine Katastrophe nach der anderen

Es war Ullrichs Tiefpunkt. Wobei, was heisst das schon? Burnouts, Depressionen, Autounfälle, Vorwürfe der Körperverletzung – er machte viel durch. Im Juni 2018 verliess ihn seine damalige Ehefrau Sara mit den drei gemeinsamen Söhnen. «Er hat nicht mehr geschlafen, hat randaliert und ich habe um unsere Sicherheit Angst gehabt. Dass in seinem Wahn vielleicht einem von uns etwas passiert. Der Jan war vom Verhalten ein ganz anderer Mensch», erklärte sie zuletzt in der Bild-Zeitung.

Ullrich: «Es kam von Jahr zu Jahr zu kleinen Katastrophen, immer stieg eine Bombe hoch – bis zum kompletten Absturz.» Alles sei eine Folge seiner Weigerung gewesen, reinen Tisch mit der Doping-Vergangenheit zu machen. «Das holte mich immer wieder ein.» Er sei nicht bereit gewesen für ein Geständnis – «einerseits, weil ich keinen meiner alten Freunde reinreiten wollte. Anderseits rieten meine Anwälte davon ab, weil ein Strafverfahren gegen mich lief.» Schuld am Ganzen trage er trotzdem ganz alleine. «Ich habe versucht, die Reissleine zu ziehen, habe sie aber nicht gefunden.»

Doping? «Die gängige Praxis»

Ullrich spricht klar, hört bei Fragen genau zu, nickt immer wieder. Er wirkt nahbar und damit anders als häufig während seiner aktiven Karriere, in der ihm das Etikett des Supertalents, aber auch jenes der im DDR-System gezüchteten Maschine anhaftete. Es ist ganz anders als am Tag vor seinem grössten Triumph, dem Tour-Sieg 1997. Damals wurde er gefragt, ob ihm der Medienrummel zu schaffen mache. Er meinte: «Ein bisschen schon, denn an so etwas bin ich nicht gewöhnt. Aber wenn man das Gelbe Trikot trägt, muss man damit leben. Ich gebe zu, dass ich manchmal lieber im Bett oder am Pool liegen würde, statt an Pressekonferenzen zu gehen.» Ullrich gewann die Tour mit 23 Jahren, als erster und bislang einziger Deutscher. «Gigant Ullrich – er fährt sie alle platt», lautete eine Schlagzeile. 

Bloss: Wie fuhr er alle platt? Auch mit Doping. 1995 wurde Ullrich Profi und merkte ein Jahr später, dass er ohne Erythropoetin, kurz EPO, nichts gewinnen würde. Das Wundermittel war damals im Fahrerfeld gespritzt, als sei es das normalste der Welt. Es verbesserte die Ausdauerleistung und verkürzte die Erholungszeit – vor allem war es damals nicht nachweisbar. «Ende der 90er wäre es fast nicht mehr möglich gewesen, ohne Epo zu gewinnen», erzählt der ehemalige Schweizer Rad-Profi Rolf Järmann (57). Er selbst gestand, im Gegensatz zu Ullrich, seinen Dopingkonsum kurz nach Karriereende. Epo zu spritzen, sei «gängige Praxis» gewesen, so Järmann. 

Genau das sagt auch Ullrich – auch wenn er nicht alle Teamkollegen und Gegner in den gleichen Topf werfen will. «Ich kam in ein System, das schon da war. Doping wurde mir so schmackhaft und auch so unentbehrlich gemacht, dass ich mich dann dafür entschieden habe. Meine Karriere wäre zu Ende gewesen, hätte ich es nicht gemacht.» Auf die Frage, wie es ohne Doping gewesen wäre, zieht er ein radikaler Vergleich: «Es wäre so, als würdest du nur mit einem Messer bewaffnet zu einer Schiesserei gehen.» 

«Können aus einem Esel kein Rennpferd machen»

Der Spanier Eufemiano Fuentes weiss nur allzu gut, wovon Ullrich spricht. Er war sein Arzt und belieferte in den 90ern und Nullerjahren unzählige Rad-Stars mit Doping – auch in Form von Eigenblut. In der Amazon-Doku sagt er über Ullrichs Anfänge: «Sie fragten mich nach der Wunderformel, um einen Champion zu machen. Aber: Wir können aus einem Esel kein Rennpferd machen.»

Der Vergleich hinkt. Denn: Der in einem Rostocker Plattenbau gross gewordene Ullrich war ausserordentlich begabt. Wie er seinen Körper im Sattel sitzend die Pässe hochwuchtete, war eine Augenweide. Und im Zeitfahren fuhr er, ganz nach ostdeutscher Radsport-Schule, phänomenal. Der kometenhafte Aufstieg wurde allerdings gebremst. Ullrich fand seine Meister bei der Tour. Zuerst in Marco Pantani (1970-2004), dem Pirata, der nach seiner Karriere nicht klar kam und sich zu Tode kokste. Später war es Lance Armstrong (52, USA), an dem Ullrich nicht vorbeikam – der Texaner gewann die Tour von 1999-2005. Alle seiner sieben Siege wurden ihm nach seinem Doping-Geständnis bei Talkshow-Moderatorin Oprah Winfrey aberkannt – Armstrong gilt seither als Inbegriff des Velo-Betrügers. 

Armstrong: Gegner und vor allem Freund

Auch Armstrong kommt in der Doku zu Wort. Zurecht. Schliesslich war er nicht nur Ullrichs grösster Rivale, sondern auch sein Retter. Als Ullrich 2018 kurz vor dem Kollaps stand, erhielt er einen Anruf von einem Freund Ullrichs. «Viele lieben ihn und wollen ihm helfen, aber nur vor dir hat er genügend Respekt», sagt dieser. Die Folge? Armstrong stieg ins Flugzeug und besuchte seinen alten Rivalen. «Ich wusste nicht, was mich erwarten würde. Aber ich liebe diesen Mann. Dass es ihm so schlecht ging, brach mir das Herz.»

Dies erzählt der Mann, der vor seinen grossen Siegen den Krebs besiegt hatte, in einem Doppel-Interview im Zeit-Magazin. Ullrich darin: «Lance hat es tatsächlich geschafft, mich zu motivieren, einen Entzug anzugehen. Da liefen Tränen.» Später, nach einem Rückfall kurz vor Heiligabend in Mexiko, ist Armstrong wieder zur Stelle. «Ich sagte ihm: Es ist Weihnachten. Ich fliege jetzt wieder nach Hause zu meinen Kindern und du musst zu deinen Kindern gehen. Wenn du mich fragst, ist das Wichtigste. Wenn du das verlierst, verlierst du alles.» 

«Danke fürs Kommen!»

Erneut rappelte sich Ullrich auf. Heute ist er überzeugt, die Kurve gekriegt zu haben – wenn auch in letzter Sekunde. Erst jetzt ist er bereit, darüber zu reden. «20 Jahre danach erkennt man die Fehler, die man gemacht hat. Heute bin ich gesund und stehe mit beiden Beinen im Leben. Ich habe mir verziehen, habe wieder Lebenslust und kann morgens in den Spiegel schauen», sagt er. Im nächsten Jahr, kurz vor der Tour de France, soll seine Autobiografie erscheinen.

Als sich Ullrich verabschiedet, pulsiert das Leben an der Langstrasse längst. Er selbst ist müde vom langen Tag, freut sich auf sein Daheim in Merdingen im Hochschwarzwald und meint: «Tschüss, danke fürs Kommen.» Dann entschwindet er in die dunkle Nacht – und hoffentlich in eine ruhigere Zukunft.

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