«Es ist, als wäre es erst gestern gewesen»
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Jubiläum für Bernhard Russi:«Es ist, als wäre es erst gestern gewesen»

Am 7. Februar 1972 wurde Russi Olympiasieger
50 Jahre auf der Überholspur des Lebens

Die goldenen Tage von Sapporo haben 1972 die Schweiz elektrisiert. Es war die Geburtsstunde des Mythos Bernhard Russi. Das Jubiläumsinterview.
Publiziert: 30.01.2022 um 00:52 Uhr
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Aktualisiert: 30.01.2022 um 08:45 Uhr
Felix Bingesser (Interview) und Toto Marti (Fotos)

Es gibt die Ovomaltine, das Aromat, die Toblerone und das Matterhorn. Und es gibt Bernhard Russi. Seit dem 7. Februar 1972 ist der Urner so etwas wie ein Stück Schweizer Kulturgut. Sein Triumph in Sapporo auf der japanischen Insel Hokkaido hat die Schweiz elektrisiert. Und dem Leben von Bernhard Russi eine ganz neue Wendung gegeben. 50 Jahre später blickt Russi auf die goldenen Tage zurück. Und erzählt im Talmuseum von Andermatt, was dieser geschichtsträchtige Tag ausgelöst hat. Und warum die goldenen Tage von Sapporo in der Schweizer Sportgeschichte so legendär geblieben sind.

Blick: Bernhard Russi, was ist der schönste Tag in Ihrem Leben?
Bernhard Russi:
Da gibt es zwei Tage, die ich nennen müsste.

Der Weltmeistertitel 1970 und der Olympiasieg 1972?
Nein. Der 3. Mai 1980 und der 14. August 1992. An diesen Tagen sind meine Kinder Ian und Jenny auf die Welt gekommen.

Goldjunge, seit 50 Jahren.
Foto: TOTO MARTI
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Mit Bernhard Russi am Spitalbett?
Natürlich. Ich habe fast mehr gelitten als die Frau.

Dann fragen wir nach dem drittschönsten Tag im Leben?
Ja, das wird dann der 7. Februar 1972 sein. Aber erst der Moment, als ich Stunden nach meinem Sieg im Hotelzimmer war, den Helm in eine Ecke geworfen und aufs Bett gesprungen bin. Vorher ist alles wie in einem Film abgelaufen. Später bin ich dann zu meinem Vater ins Hotel spaziert. Er sass mit fünfzig Japanern am Tisch und war der Star im Speisesaal. Ich weiss nicht, wie viel japanischen Sake-Schnaps die schon intus hatten. Ich sass in einer Ecke wie bestellt und nicht abgeholt.

War Ihr Vater oft dabei?
Bei genau zwei Rennen. Beim WM-Titel und beim Olympiasieg.

Und nach dem 7. Februar 1972 hat ein neues Leben begonnen.
Ja, natürlich. Es gehen schon viele Türen auf. Ein Olympiasieg hat schon etwas Mystisches. Olympiasieger ist man auf der ganzen Welt. Weltcupsiege und WM-Titel im Skifahren interessieren halt nur einen kleinen Teil der Welt. Für mich persönlich war aber der WM-Titel 1970 fast wichtiger.

Inwiefern?
Das war wie eine zweite Geburt. Da steht man aus dem Nichts plötzlich auf der grossen Bühne, da hat mein neues Leben bereits angefangen.

Aber emotional war Sapporo schon eine andere Dimension?
Nein. Die Grösse der Bühne spielt bei den Emotionen keine grosse Rolle. In der Saison 1962/63 bin ich in Andermatt Jugendmeister in der Kombination, Abfahrt, Slalom, Langlauf und Skisprung geworden. Der Zinnbecher, der da vorne steht, hat für mich denselben Wert wie die olympische Goldmedaille. Dieser Sieg war mindestens so emotional wie der Erfolg in Sapporo.

Ein Jugendmeistertitel ist doch kein Olympiasieg.
Als junger Bursche war das für mich eine grossartige und aufwühlende Geschichte. Am Abend gab es damals in unserem Dorf einen grossen Ball. Und der Jugendmeister durfte sich für den ersten Tanz ein Mädchen aussuchen. Das war für mich als scheuer Junge aufwühlend, daran erinnere ich mich immer wieder. Allerdings war es mit dem Tanz noch nicht getan. Claudia hatte bereits zwei Freunde, gegen die ich mich bestätigen musste. Einen, weil er der Schönste war. Und der andere, weil er der Gescheiteste war. Und der Sommer ohne Schnee und Skifahren stand bevor.

Wie viel haben Sie eigentlich für den Olympiasieg in Sapporo kassiert?
Genau weiss ich es nicht mehr. Ungefähr 60'000 Franken.

Und dann kamen all die vielen Werbeverträge dazu.
Nein, Fremdwerbung war damals ja noch nicht erlaubt. Karl Schranz ist drei Tage vor der Olympiaabfahrt in Sapporo disqualifiziert worden. Aber klar, später kamen die Werbeverträge auch bei mir.

Wie war damals eigentlich die Flugreise nach Sapporo?
Der damalige Skidirektor Adolf Ogi hat alles perfekt geplant. Die gesamte Delegation ist mit einem Charterflug via Moskau nach Sapporo geflogen. Wir haben dann alle eine Schlaftablette erhalten. Aber ich habe kein Auge zugetan. Wir haben durchgejasst, wie immer. Zum Ärger von Adolf Ogi. In Sapporo war ich mit Walter Tresch im Zimmer. Auch da haben wir immer gejasst, nach den Trainings noch meist in den Skischuhen.

Und Sushi gegessen?
Das kannten wir nicht. Aber haben natürlich mitbekommen, wie die japanischen Funktionäre diesen für uns stinkenden rohen Fisch aus der Plastikbox gegessen haben. Heute esse ich selber gerne Sushi. Wir hatten aber schon damals den eigenen Koch mit dabei. Und wir waren schon damals in einer Olympiablase und haben von der japanischen Kultur so gut wie nichts mitbekommen.

Aber die olympische Familie war damals noch kleiner, und man hatte viele Begegnungen mit anderen Sportlern.
Klar. Es gab nur ein olympisches Dorf. Und jeder hat gehofft, dass er beim Frühstück einmal neben der wunderschönen österreichischen Eiskunstläuferin sitzt. Es gab auch zwei sehr hübsche kanadische Langläuferinnen. Aber ich bin immer neben Walter Tresch, Dölf Rösti, Edy Bruggmann oder Söre Sprecher gesessen. Auch Roland Collombin, der ja die Silbermedaille gewonnen hat, war viel dabei.

Collombin ist ja verhaftet worden und hat eine Nacht im Gefängnis verbracht.
Er hat das Nachtleben intensiv genossen. Wir hatten damals auch noch eine bemerkenswerte Begegnung mit einem japanischen Eisschnellläufer.

Inwiefern?
Der war Favorit über die 500 Meter. Der Druck war gigantisch. Er hat uns erzählt, dass er seinem Leben mit Harakiri ein Ende bereiten müsste. Wenn er nicht Gold holen würde, dann würde er in Japan das Gesicht verlieren. Er ist dann Olympiasieger geworden.

In Kloten haben Tausende von Leuten am Flughafen gewartet, und in Altdorf gab es einen Empfang mit zehntausend Menschen. Warum haben die goldenen Tage von Sapporo die Schweiz so bewegt?
Da spielt das Fernsehen sicher eine grosse Rolle. Damals gab es ja am Tag nur das Standbild, ein Programm gab es erst am Abend. Die ersten Direktübertragungen der Skirennen haben das verändert. Am 7. Februar morgens um fünf Uhr ist ja die halbe Schweiz irgendwo vor einem TV-Gerät gesessen. Aber wir sind ja damals nicht direkt in die Schweiz zurückgekehrt.

Sondern?
Wir sind in die USA zu weiteren Weltcuprennen geflogen. Mit einem Zwischenhalt in Honolulu. Da fuhren wir dann mit dem Taxi an die berühmte Waikiki Beach. Und haben uns dort in den paar Stunden einen gigantischen Sonnenbrand geholt.

Es gibt nicht nur Licht, es gibt auch Schatten. Was war eigentlich der schlimmste Tag im Leben von Bernhard Russi?
Der Lawinentod meiner ersten Frau Michèle 1996. Ich war mit Willy Bogner in St. Moritz, als ich den Anruf erhielt. Ich habe sie ja noch für das Heliskiing in Kanada überredet. Ich bin dann in der Nacht nach Hause gefahren und musste am Morgen meinem 16-jährigen Bub mitteilen, dass seine Mutter gestorben ist. Das war fürchterlich. Aber in solchen Momenten funktioniert man halt einfach.

Sie hatten in Ihrer Familie einige Schicksalsschläge. Neben dem Lawinentod Ihrer ersten Frau auch der frühe Tod Ihres Bruders und die schwere Behinderung Ihrer Schwester. Trotzdem gilt Bernhard Russi als Sportler, als Werbeträger, als Medienmann bis heute als Sonnenkind und Sonnyboy des Schweizer Sports. Sind Sie ein eitler Mensch?
Rück- und Tiefschläge hat jeder Mensch. Man darf den Mut und die Freude am Leben nie verlieren. Und zur Eitelkeit: Jeder ist doch ein wenig eitel. Sonst hätte die Menschheit ja den Spiegel gar nie erfunden.

Jetzt fliegen Sie zu den Olympischen Spielen nach Peking. Ihr letzter Einsatz in Ihrer Funktion als Pistenbauer und Präsident des Alpinkomitees der FIS. Reisen Sie mit gemischten Gefühlen nach China?
Ich habe zu diesem Thema eine neutrale Haltung. Es gibt verschiedene politische Systeme, es gibt verschiedene Kulturen. Der Sport darf in diesem Spannungsverhältnis nicht geopfert werden. Ich freue mich auch auf diese Spiele.

Auf drei Wochen abgeschirmt in einer Blase?
Die Olympiablase gibt es schon länger. Viele Sportler geben sich die Hände seit vielen Jahren nicht mehr und grüssen mit dem Ellbogen. Ich werde ein Zimmer in einem Haus nahe der Piste haben. Das Essen wird jeweils vor die Türe gestellt, das Zimmer darf ich nur für Ausseneinsätze verlassen. Ich habe mir jetzt einen Tolino gekauft und werde wohl viel lesen. Bis jetzt habe ich neben einigen Konsalik-Romanen ja kaum Bücher gelesen.

Gibt es in Peking ein zweites Sapporo?
Hoffentlich. Wir haben ja einige Trümpfe.

Vor allem Marco Odermatt. Kann er dreifacher Olympiasieger werden?
Er kann dreimal Gold holen. Aber auch mit leeren Händen heimfahren. Im zweiten Fall müsste allerdings schon sehr, sehr vieles schieflaufen.

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