Ein Flop mit Ansage
Schweizer Sprint-Staffel enttäuscht

Vom vierten Olympia-Rang auf den siebten WM-Platz abgestürzt. Aber ganz überraschend kommt dieser Staffel-Flop des Schweizer Sprinterinnen-Quartetts am zweitletzten WM-Tag in Eugene nicht.
Publiziert: 24.07.2022 um 08:59 Uhr
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Aktualisiert: 24.07.2022 um 10:52 Uhr
Carl Schönenberger

Am Anfang steht das Märchen. Es ist der 5. August 2021. Im Olympiastadion von Tokio schreiben Ajla del Ponte, Riccarda Dietsche, Mujinga Kambundji und Salome Kora Schweizer Leichtathletik-Geschichte: Platz 4 über 4x100 m. Nur Jamaika, die USA und Grossbritannien sind schneller. Mit ihrer bis heute gültigen Schweizerrekord-Zeit von 42,08 sind die Schweizerinnen gerade mal zwei Zehntel-Sekunden hinter dem Bronze-Platz.

Da kann man ja träumen – und für die WM ein Jahr später in Eugene eine Staffel-Medaille ins Visier nehmen. Schliesslich ist man ja eine Sprint-Nation.

Dass die Vorzeichen in diesem Jahr allerdings komplett anders sind als im Sommer 2021 – darüber schauen nicht bloss die Sprint-Frauen selbst, sondern scheinbar auch der neue Staffel-Verantwortliche Adrian Rothenbühler zumindest gegen aussen grosszügig hinweg.

Die Schweizer Sprint-Staffel erreicht an der WM den 7. Platz.
Foto: keystone-sda.ch
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Ja, 2021, das war einmal. Eine Ajla del Ponte (26) in Überfliegerinnen-Form. Platz 5 im 100-m-Olympia-Final. Eine Mujinga Kambundji (30), von Del Pontes Exploits noch einmal zum Zünden eines weiteren Leistungs-Turbos gereizt. Rang 6 im 100-m-Olympia-Final. Alles hat optimal gepasst. Eskortiert von diesen beiden Leaderinnen fliegen auch Riccarda Dietsche und Salomé Kora auf Wolke sieben.

Und jetzt, am 23. Juli 2022 in Eugene? Willkommen in der Realität! Aber eigentlich wird der Sinkflug bereits zu WM-Beginn im 100-m-Einzelrennen eingeleitet. Von Ajla del Ponte, die im Vorlauf fast bloss im Leerlauf zu treten scheint. Gezeichnet von schwierigen letzten Monaten mit Corona und einer Muskelverletzung im Gesässbereich. Mujinga Kambundji brilliert da zwar mit einem feinen fünften Platz, muss aber später im 200-m-Final als Achte ebenfalls erfahren, dass ihre Reserven nicht grenzenlos sind.

Del Pontes Verunsicherung

Adrian Rothenbühler reagiert – zumindest, was «seine eigene» Athletin betrifft. Er gönnt Kambundji an Stelle des Einsatzes im Staffel-Vorlauf einen WM-freien Tag. Ersatzläuferin Sarah Atcho solls richten. Man sei ja schliesslich eine Sprinterinnen-Nation, sagt Rothenbühler. Und die Amis, Jamaikanerinnen oder Britinnen leisten sich solche Quartett-Änderungen zwischen Vorlauf und Final schliesslich auch. Rothenbühlers Poker geht gerade noch auf – nicht über einen Top-3-Platz, sondern lediglich über die Zeit erzittern sich Geraldine Frey, Atcho, Kora und Del Ponte den letzten der acht Finalplätze.

Aber der Schaden ist schon angerichtet. Anstatt mittendrin, auf den Bahnen mit den weniger engen Kurvenradien, müssen die Schweizerinnen auf der ungeliebten Innenbahn eins ran. Aber schliesslich ist ja Mujinga in der Entscheidung um die Medaillen wieder dabei. Zusammen mit Startläuferin Frey bringt die Bernerin den Schweizer Frauen-Vierer auf der ersten Rennhälfte in eine gute Ausgangslage. In der engen Schlusskurve zeigt auch Salomé Kora noch einen soliden Lauf. Doch beim letzten Wechsel bricht bei Del Ponte die totale Verunsicherung durch. Die Tessinerin will retten, was bei ihrer nicht vorhandenen Form noch zu retten ist. Sie läuft beim Wechsel so früh los, dass Kora keine Chance hat, ihr den Staffelstab noch in die Hand zu legen. Erst als die St. Gallerin schreit, zieht Del Ponte die Notbremse und läuft dann fast aus dem Stand mit dem Stab in der Hand für die Zielgerade los. Sie kann gerade noch knapp verhindern, auch von Italien geschlagen und damit Letzte zu werden. 42,81 Sekunden gegenüber den 42,08 vor einem Jahr in Tokio – oder den 42,13 Sekunden vor wenigen Wochen in Stockholm …

Warum kam Kouni nicht zum Zug?

Dabei wäre in Eugene ja bis zum Wechsel der Schlussläuferin alles für den grossen Coup angerichtet: Grossbritanniens Übersprinterin Dina Asher-Smith zieht sich in der Kurve eine Verletzung zu, kann die letzten 20 Meter nur noch langsam humpeln. Doch an Stelle der Schweizerinnen sind es die Deutschen, die mit Bronze hinter USA und Jamaika den Profit aus dem Britinnen-Pech ziehen.

Eine Frage bleibt: Warum hat Staffel-Coach Rothenbühler nach dem knapp aufgegangenen Vorlauf-Poker nicht auch für den Final auf volles Risiko gesetzt? Mit der 21-jährigen Nathacha Kouni hätte er eine erfolgshungrige Alternative zur verunsicherten Ajla del Ponte in Eugene vor Ort gehabt.

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