Was Weihnachten bewirken kann
Ein Fussball-Wunder mitten im Krieg

Glauben Sie an die Kraft des Fussballs? Diese wundervolle, fast vergessene Geschichte aus dem Ersten Weltkrieg gibt die Antwort auf diese Frage.
Publiziert: 24.12.2016 um 20:22 Uhr
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Aktualisiert: 12.09.2018 um 00:35 Uhr
Oskar Beck

Weihnachten. Jeder spürt in sich dieses spezielle Gefühl. Der frühere deutsche Bundestrainer Berti Vogts wurde an Weihnachten sogar zum Poeten. Sein Gedicht war ein Appell an alle und ging so: «Ein bisschen mehr Freude und weniger Streit, ein bisschen mehr Güte und weniger Leid, ein bisschen mehr Liebe und weniger Hass, ein bisschen mehr Wahrheit, das wäre doch was.» Da schrieb sich einer seine Sehnsucht nach Freude und Friede von der Seele – im Glauben, dass der Fussball die Kraft hat, Menschen zusammenzubringen.

Die Kraft des Spiels

Ist das nur ein schöner Weihnachtstraum, von dem nichts übrig bleibt in der rauen Wirklichkeit? Es gibt darauf eine verblüffende Antwort, und sie ist älter als hundert Jahre. Auch damals war gerade Weihnachten, inmitten weltweiten Unfriedens, so wie heute – und doch haben Fussballer es aller Barbarei zum Trotz tatsächlich fertiggebracht, mit dem Glauben an die Kraft ihres Spiels den Glauben an die Menschlichkeit wachzuhalten.

Es ist eine alte, fast vergessene Geschichte, und eine gleichermassen wunderbare wie furchtbare Geschichte. Furchtbar ist sie, weil sie zwischen den Schützengräben und dem Leben und Sterben spielt, an der Westfront des Ersten Weltkriegs in Flandern – aber wunderbar ist, was die Soldaten an jenem Weihnachtstag 1914 taten. Sie hatten genug vom Töten. Sie schossen auch an dem Tag aufeinander – aber nur mit dem Fussball.

Flandern, 1914: Am Heiligabend steigen Deutsche und Engländer aus den Schützengräben, zeigen sich Fotos – und spielen Fussball.
Foto: Universal History Archive
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Vom «Christmas Truce» ist in den Geschichtsbüchern die Rede, von der «Waffenruhe an Weihnachten» jenes ersten Kriegsjahrs. Fast eine Million Soldaten waren schon gefallen, aber mitten im Gemetzel geschah dann das Wunder: Ohne ihre Generäle zu fragen, verliessen die Soldaten auf beiden Seiten der Front ihre Gräben.

Wie es sich ergab? Der europäische Fussballverband Uefa hat den Tag in einem Video rekonstruiert.

In die Haut der Soldaten schlüpfen darin britische, französische und deutsche Fussballstars, die Farben der Alliierten vertreten beispielsweise Bobby Charlton, Wayne Rooney, Gareth Bale und Hugo Lloris, für die andere Feldpostnummer stehen Paul Breitner, Bastian Schweinsteiger und Philipp Lahm, und vor dem Hintergrund der dokumentarischen Bilder lesen sie als Kriegsdarsteller sozusagen aus ihren alten Feldpostbriefen – und erzählen, wie Freund und Feind zunächst in den eigenen Schützengräben Weihnachten feierten, kaum hundert Meter voneinander entfernt. Man lag in Rufweite zueinander.

Sie zeigten sich Fotos

«Wir hören, wie die Deutschen singen, Musik hören, lachen», schildert Sergeant Charlton, und Schütze Rooney erinnert sich: «Sie haben uns Grüsse zugerufen, in gutem Englisch.» Soldat Breitner beweist es, fehlerfrei schreit er hinüber zum Feind: «Hey, Tommy! Happy Christmas, Tommy!»

So ging es los. Dann krochen die Ersten aus ihren Gräben. Grenadier Lloris: «Die Deutschen gaben keinen Schuss mehr ab. Sie reichten uns Zigarren und Zigaretten. Ich gab ihnen eine Le Petit Parisien und bekam dafür im Tausch eine deutsche Zeitung.» Man schüttelte Hände und zeigte sich Fotos aus der Heimat, von Frau und Kindern, man war Mensch. «Unter den Uniformen waren wir alle gleich», sagt Charlton, «wir tranken dasselbe Bier, aus denselben Bechern.»

Und plötzlich spielten sie auch mit demselben Ball. «Die Engländer brachten ihn aus ihrem Schützengraben, und ein reges Spiel begann», erzählt Schütze Schweinsteiger.

«Es war alles andere als einfach, auf dem gefrorenen Boden zu spielen», sagt Soldat Lahm, aber das Glück überwog. Breitner: «Fussball im Niemandsland! Wir hatten Torpfosten und einen Ball – mehr brauchten wir nicht.» Was sie brauchten, hatten sie: Eine Auszeit vom Sterben.

Der Ball ersetzte die Gewehrkugeln, wenigstens für einen Tag. «Todfeinde kamen als Freunde zusammen», erinnert sich Schweinsteiger, und Scharfschütze Bale staunt: «Wenn ich nicht selbst gesehen hätte, was Weihnachten bewirken kann, ich würde es nicht glauben.»

Fussballer setzten ein Symbol für den Frieden – bis die Generäle wieder das Töten befahlen. «Es wird dunkel», sagt Soldat Breitner, «wir werden in unsere Schützengräben zurückgerufen. Wir schütteln uns ein letztes Mal die Hände.»

Deutschland gewinnt 3:2

Der englische Füsilierhauptmann Robert von Ranke-Graves hat die Ereignisse jenes Weihnachtstags 1914 später bestätigt, und zwar glaubhaft, denn er war dabei. Er hielt sogar fest, die Deutschen hätten 3:2 gewonnen. Aber das war nicht das Wesentliche an jenem denkwürdigen Weihnachtstag vor gut hundert Jahren, an dem sich die Antwort auf die Frage ergab: Ist der Fussball besser als die Welt, in der er gespielt wird?

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