Vor 30 Jahren
«Sind Lesben ansteckend?» Der absurde und diskriminierende Fall des FC Wettswil-Bonstetten

Sex-Skandal! Fest der Lesben! Abnormale Veranlagungen! Vor 30 Jahren erschütterte der Diskriminierungsfall des FC Wettswil-Bonstetten den Frauenfussball. Das denken die Beteiligten heute darüber.
Publiziert: 02.04.2024 um 12:36 Uhr
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Aktualisiert: 02.04.2024 um 12:41 Uhr
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Daniel LeuStv. Sportchef

Der legendäre TV-Moderator Ueli Heiniger ist noch heute beeindruckt. «Diese beiden Frauen waren zuvor noch nie im Fernsehen aufgetreten, doch sie waren dann vor den Kameras so authentisch, mutig und ehrlich. Das hat mir imponiert.» Diese beiden Frauen sind Franziska Steinemann (damals Wagner) und Claudia Hirt. Am 12. April 1994 waren sie bei Heiniger zu Gast im «Club». Das Thema: «Lesben im Damenfussball. Angst vor homosexueller Ansteckung?»

Was die Zuschauerinnen und Zuschauer dort vor 30 Jahren während 85 Minuten und 38 Sekunden zu sehen bekamen, ist rückblickend betrachtet eine Groteske und an Absurdität kaum zu überbieten. Doch das TV-Volk schien es brennend zu interessieren. 369’000 Menschen sahen sich diese Sendung an, der Marktanteil betrug unglaubliche 46 Prozent – Rekordwerte bis heute.

Doch warum gab es überhaupt diese «Club»-Sendung mit dem aus heutiger Sicht so abwegigen Titel? Der Grund dafür war der Diskriminierungsfall beim FC Wettswil-Bonstetten, einem Verein aus dem Zürcher Säuliamt.

2. April 1994: «Sex-Skandal im Fussballklub», titelt damals Blick.
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Was passierte im Klubhaus Mooshüsli?

Die Frauen des FCWB spielten damals in der 2. Liga, der dritthöchsten Spielklasse. Dass in jener Zeit immer mehr Frauen Fussball spielten, passte offenbar im Klub nicht allen. Ende März 1994 nahm das Unheil seinen Lauf. «Wir feierten in unserem Klubhaus Mooshüsli den 30. Geburtstag einer Spielerin. Manche hatte auch ihre Freundinnen dabei», erinnert sich die damalige Fussballerin Claudia Hirt, «das ist dem Vorstand offenbar sauer aufgestossen. Sie sprachen anschliessend fälschlicherweise von einem Fest der Lesben. Wenige Tage danach wurde unser Team ohne Vorwarnung vom Spielbetrieb ausgeschlossen».

Auch Franziska Steinemann kickte damals für den FCWB. «Der Vorstand suggerierte uns gegenüber, dass lesbische Spielerinnen unter der Dusche Mädchen belästigt hätten, was definitiv nicht stimmte. Das war ein ungeheuerlicher Vorwurf und eine totale Verleumdung. Uns allen war schnell klar, dass wir uns das nicht gefallen lassen.»

Das sagt der FC Wettswil-Bonstetten heute zum Diskriminierungsfall

«Noch heute werden die Ereignisse von 1994 ab und zu angesprochen. Es ist klar, dass damals seitens des Vereins falsch reagiert wurde. Die heutige Vereinsführung bedauert die damaligen Entscheidungen und Äusserungen ausserordentlich, und wir möchten, auch wenn es lange her ist, die betroffenen Spielerinnen von 1994 um Entschuldigung bitten.

Der FC Wettswil-Bonstetten ist dezidiert gegen jede Art von Diskriminierung, und wir legen grossen Wert auf ein faires, anständiges und unvoreingenommenes Miteinander. Dies haben wir auch in unserem Leitbild und im Verhaltenskodex seit vielen Jahren festgehalten. Der FC Wettswil-Bonstetten wird in regelmässiger Abfolge vom FVRZ als vorbildlicher Verein ausgezeichnet.

Der FC Wettswil-Bonstetten hat sich über die vergangenen 30 Jahre gesellschaftlich und sportlich erfreulich entwickelt und ist mittlerweile einer der grössten Sportvereine im Säuliamt. Wir sind offen für alle Menschen aus der und über die Region hinaus. Seit langem spielen Mädchen selbstverständlich in unseren Junioren-Teams. Mittlerweile hat sich daraus eine Juniorinnen-Abteilung entwickelt, die schon mehrere Teams umfasst. Ein Frauen-Team ist ebenfalls im Aufbau.»

Martin Meili, Präsident FC Wettswil-Bonstetten

«Noch heute werden die Ereignisse von 1994 ab und zu angesprochen. Es ist klar, dass damals seitens des Vereins falsch reagiert wurde. Die heutige Vereinsführung bedauert die damaligen Entscheidungen und Äusserungen ausserordentlich, und wir möchten, auch wenn es lange her ist, die betroffenen Spielerinnen von 1994 um Entschuldigung bitten.

Der FC Wettswil-Bonstetten ist dezidiert gegen jede Art von Diskriminierung, und wir legen grossen Wert auf ein faires, anständiges und unvoreingenommenes Miteinander. Dies haben wir auch in unserem Leitbild und im Verhaltenskodex seit vielen Jahren festgehalten. Der FC Wettswil-Bonstetten wird in regelmässiger Abfolge vom FVRZ als vorbildlicher Verein ausgezeichnet.

Der FC Wettswil-Bonstetten hat sich über die vergangenen 30 Jahre gesellschaftlich und sportlich erfreulich entwickelt und ist mittlerweile einer der grössten Sportvereine im Säuliamt. Wir sind offen für alle Menschen aus der und über die Region hinaus. Seit langem spielen Mädchen selbstverständlich in unseren Junioren-Teams. Mittlerweile hat sich daraus eine Juniorinnen-Abteilung entwickelt, die schon mehrere Teams umfasst. Ein Frauen-Team ist ebenfalls im Aufbau.»

Martin Meili, Präsident FC Wettswil-Bonstetten

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Als der Blick Wind davon bekam, ging es erst richtig los. Am 2. April 1994 titelte Blick: «Sex-Skandal im Fussballklub. Zu viele Lesben – Spitzenteam wurde aufgelöst». Im Artikel verweist der Klubvorstand auf seine offizielle Mitteilung, und die hat es in sich: «Der Verein wird ausgenützt für das Ausleben von abnormalen Veranlagungen. Die Damenmannschaft hat dem Ansehen und Interesse des Vereins geschadet. Als Vorstand sind wir verpflichtet einzuschreiten, sobald die Gefahr besteht, dass Minderjährige gefährdet sind.»

Garniert war der Blick-Bericht mit einem geschmacklosen Spruch des legendären Käfers: «Ich spiele am liebsten im Lesbenmoos.» Ebenfalls stossend: Das Ganze war kein Sex-Skandal, sondern ein Diskriminierungsfall.

«Die Berichterstattung war ein Meilenstein»

Barbara Brosi war damals Präsidentin der Lesbenorganisation Schweiz LOS, ebenfalls zu Gast im «Club» und galt danach als bekannteste Lesbe der Schweiz. Heute sagt sie: «Ich bin dem Blick ewig dankbar dafür, dass er die Geschichte an die Öffentlichkeit gebracht hat, auch wenn die Art und Weise plump und ebenfalls diskriminierend war. Doch für die Lesbenbewegung in der Schweiz war die Berichterstattung sehr wichtig und ein Meilenstein.»

In den Tagen danach sprangen immer mehr Medien auf den Fall auf. Und zwar nicht nur einheimische, auch in Deutschland und England wurde darüber berichtet. Moderator Heiniger war sich vor 30 Jahren zuerst gar nicht sicher, ob die Geschehnisse überhaupt ein Thema für den «Club» seien. «Wir haben lange darüber diskutiert, weil es eigentlich zu boulevardesk war. Doch als wir realisierten, dass dieses Thema auch gesellschaftlich relevant ist, entschieden wir uns doch dafür.»

«Ich machte quasi am TV mein Coming-out»

Eine Entscheidung, die sich als goldrichtig herausstellen sollte. So kam es zu dieser denkwürdigen Sendung, in der unterschiedliche Weltansichten aufeinanderprallten. In der ein ehemaliges Vorstandsmitglied des FCWB versuchte zu rechtfertigen, was gar nicht zu rechtfertigen war. Was denken die Gäste von damals heute über diese Sendung und die Blick-Berichterstattung?

Barbara Brosi: «Vor dieser Sendung waren Lesben in der Öffentlichkeit nicht sichtbar und hatten auch kein politisches oder gesellschaftliches Gewicht. Das änderte sich mit den Blick-Artikeln und dem ‹Club› schlagartig. Für mich persönlich hatte der Auftritt fast nur positive Folgen. Man kannte mich danach, ich wurde auf der Strasse dauernd angesprochen und hatte plötzlich Blumen vor meiner Tür. Ich bekam sogar Briefe zugestellt, auf denen als Adresse nur ‹Barbara Brosi, Lesbe Schweiz› stand.»

Franziska Steinemann: «Damals hatte ich keine Ahnung, was diese Sendung für ein Echo auslösen würde. Doch es war richtig, dass wir hingestanden sind und wir uns gewehrt haben. Auch gegen die Blick-Berichterstattung. Der Vorwurf des ‹Sex-Skandals› war ein schlimmer, weil er sexuelle Übergriffe implizierte.»

Claudia Hirt: «Ich habe viel aufs Spiel gesetzt, denn nebst meinen Eltern und meinem Bruder wusste noch niemand, dass ich lesbisch bin. Ich machte quasi am TV mein Coming-out. Danach bekam ich schachtelweise Zuschriften, der Grossteil davon positiv. Doch leider verlor ich wegen dem Auftritt auch meinen Job. Ein paar Monate später aber fand ich eine neue Arbeit, unter anderem auch, weil sie mich im Fernsehen gesehen hatten und beeindruckt von meinem Mut waren.»

«Lesben sind Nymphomaninnen!»

In was für einer Zeit wir in jenen Tagen lebten, zeigte auch die damalige Blick-Berichterstattung. Nach der «Club»-Sendung konfrontierte Blick Barbara Brosi mit sieben Vorurteilen über lesbische Frauen: «Lesben sind ansteckend!», «Lesben missbrauchen Mädchen!» oder «Lesben sind Nymphomaninnen!». Heute muss Brosi darüber lachen: «Damals dachten wirklich viele Menschen so. Sie waren der Meinung, dass Lesben hässlich und ‹abverheite› Männer sind, die noch nie einen Typen abbekommen haben.»

Auch Franziska Steinemann erinnert sich mit gemischten Gefühlen zurück. 1994 sagte sie in einem der zahllosen Interviews dem «Aargauer Tagblatt»: «Mir scheint, diese Männer können nicht verkraften, dass es Frauen gibt, die für sie nicht verfügbar sind. Zum Ausstellen waren wir immer gut genug. Sie hatten ihren Spass, wenn wir bei Vereinsanlässen hinter der Bar standen oder für Tanzeinlagen benötigt wurden. Sobald es um den Sport ging, waren wir für sie aber nicht mehr interessant.»

30 Jahre später sagt sie: «So war es wirklich. Ich habe das jahrelang im Frauenfussball erlebt. Bei einem anderen Klub durften alle auf dem Rasen trainieren, nur wir nicht. Wir mussten mit einem Sandplatz vorliebnehmen.»

Doch wie ging damals der Fall um den FC Wettswil-Bonstetten schliesslich aus? Vom zürcherischen Fussballverband wurde das Gesuch, das Frauen-Team vom Spielbetrieb zurückzuziehen, abgelehnt. Der Klub-Vorstand setzte daraufhin deren Trainer, der stets zu den Frauen gehalten hatte, ab. Aus Solidarität weigerten sich danach die 19 Spielerinnen, weiterhin für den FCWB aufzulaufen, und wechselten geschlossen zum FC Birmensdorf.

Franziska Steinemann bilanziert: «Was wir damals gemacht haben, hat enorm viel bewirkt. Hinstehen und sich wehren – ich würde heute alles wieder gleich machen.»

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