«Schiedsrichter sind nicht schlechter als unser Fussball»
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Fringer verteidigt Schiris:«Schiedsrichter sind nicht schlechter als unser Fussball»

Die grosse Schiri-Debatte
Sind unsere Schiedsrichter schlechter geworden?

Es vergeht kaum ein Wochenende, ohne dass die Fussballschweiz über Schiri-Pfiffe debattiert. Was läuft falsch? Wir haben uns umgehört und nennen die heissesten Brennpunkte.
Publiziert: 15.05.2023 um 01:23 Uhr
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Aktualisiert: 15.05.2023 um 08:32 Uhr
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Michael WegmannStv. Fussballchef

Runde für Runde wird in der Fussballschweiz über Schiedsrichter-Entscheide lamentiert und debattiert. Fans, Spieler, Trainer – quasi alle zoffen mit. Letztes Wochenende schäumten sie in Basel, im Wallis wittern sie die grosse Verschwörung und in St. Gallen fühlen sie sich benachteiligt. «Mittlerweile wird quasi in Endlosschlaufe über den Schiedsrichter diskutiert», sagt der ehemalige Spitzen-Referee und heutige Blick-Schiedsrichter-Experte Urs Meier (64).

Dabei hat man erwartet, dass mit der Einführung des VAR (Video Assistent Referee) im Sommer 2019 die Streitigkeiten rapide zurückgehen würden. Doch das Gegenteil scheint der Fall. Es scheint, als stünden die Schiedsrichter in diesem Frühling so heftig in der Kritik wie kaum je davor. «Gefühlt haben die Diskussionen mit dem VAR sogar noch zugenommen», sagt Meier.

Warum ist das so? Macht der VAR die Arbeit des Referees tatsächlich schwieriger? Werden die technischen Hilfsmittel falsch angewendet? Ist das Regelwerk (Stichwort Handspiel) mittlerweile zu kompliziert? Liegts an der Qualität unserer Schiedsrichter? Oder ist schlicht und einfach unsere Erwartungshaltung zu gross? Brauchen wir Hilfe? Wenn ja, was oder wer könnte helfen?

Mal sind es die St. Galler, ...
Foto: Pius Koller
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So wie es jetzt läuft, darf es nicht weitergehen

Wir haben uns bei Spielern, Trainern, Experten und Schiedsrichtern umgehört. Nebst Kritik gibts auch konstruktive Vorschläge zur Verbesserung der Situation. Denn in einem Punkt sind sich alle einig: So wie es jetzt läuft, darf es nicht weitergehen.

SonntagsBlick nennt die heissesten Brennpunkte und unser Schiri-Experte Meier sagt, was er dazu meint.

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Unsere Schiedsrichter sind schlechter geworden

Nicht wenige Profis haben dieses Gefühl. Viele sagens hintenrum, wenige kritisieren öffentlich. FCL-Goalie Müller hat sich schon vor zwei Jahren über die Qualität der Schweizer Refs beklagt. FCZ-Routinier Dzemaili wurde kürzlich wegen seiner Schiri-Schelte in einem Interview gar bestraft. Letztes Wochenende stellte FCB-Goalie Marwin Hitz fest: «Wir haben ein Problem in der Schweiz und brauchen Hilfe.» Sein Vorschlag: Den ehemaligen deutschen Spitzen-Referee Manuel Gräfe hinzuziehen. Sind unsere Schiedsrichter schlechter geworden? Die Fakten sagen: nein! Im internationalen Vergleich sind wir so gut wie lange nicht mehr. Mit Sandro Schärer hat die Schweiz nach vielen Jahren Absenz sogar wieder einen Schiedsrichter in Europas Elite-Klasse, der demnächst an EM- und WM-Endrunden pfeifen wird. Fedayi San gehört als VAR zur Champions League, war bei Milan gegen Inter im Einsatz, und Esther Staubli ist wie Schärer bei den Frauen in der Top-Gruppe.

Meier meint: «Im internationalen Vergleich sind wir nicht schwächer geworden. Mit Sandro Schärer haben wir ein Aushängeschild, dahinter haben wir einige junge, talentierte Schiedsrichter, die nun in Ruhe reifen können. Aber wir müssen weiter hart arbeiten, um noch besser zu werden.»

2

Referees sind arroganter als früher

Früher habe man noch mit den Schiedsrichtern diskutieren können. Es seien von beiden Seiten Sprüche gefallen, heisst es aus Spieler- und Trainerkreisen. Heute würden sich die Referees abschotten. Statt einer Antwort gebe es eine Ermahnung oder gleich eine Verwarnung. Kaum ein Trainer der Super League oder Challenge League, der noch nicht eine Karte gesehen hat. «Die Schiedsrichter sind arroganter als früher», so ein Ex-Profi. Ex-Nati-Trainer Rolf Fringer sieht das Problem teilweise in der konsequenteren Regelauslegung. «Steht ein Trainer einen Meter ausserhalb seiner Zone, kommt sofort der vierte Offizielle und zieht ihn an den Ohren zurück. Da wird manchmal übertrieben, da ist man fast zu pingelig.»

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«Für mich macht es den Anschein, dass einige Schiedsrichter teilweise zu viel reden.»
Blick-Schiedsrichter-Experte Urs Meier
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Meier meint: «Ich denke nicht, dass die Schweizer Schiedsrichter arrogant sind. Für mich macht es den Anschein, dass einige Schiedsrichter teilweise sogar zu viel reden. Schiedsrichter sollten ein Teil des Spiels sein, der Umgang untereinander darf direkt, auch mal hart oder lustig sein. Aber nie unter der Gürtellinie und immer mit Respekt. Ein Schiedsrichter darf nicht immer diskussionsbereit sein, das waren wir übrigens früher auch nicht. Ich erinnere mich beispielsweise noch gut an Georges Bregy. Der wollte immer alles bereden. Ihn habe ich öfter abgewürgt oder ignoriert.»

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Der VAR schaltet sich zu oft ein

Trotz grosser Skepsis war die Mehrheit mit dem VAR nach dessen Einführung in der Saison 2019/20 zufrieden. Der Wind hat gedreht: Die Unzufriedenheit ist gross. «Der VAR mischt sich viel ein», sagt ein Trainer. Die Zahlen geben ihm recht: In den 36 Runden 2019/20 hat der VAR 36 Schiri-Entscheide umgestossen. Nach der 32. Runde in dieser Spielzeit sinds bereits 67 (siehe Box). Hochgerechnet werden wir Ende Saison bei 75 sein. Die Anzahl Checks ist immer in etwa dieselbe: sechs bis sieben pro Partie. Der Grund ist simpel: Der VAR überprüft konsequent jeden Entscheid, den er ändern kann. Jedes Goal, jede Rote Karte und jeden Penalty-Pfiff.

Meier meint: «Der VAR wurde eingeführt, um krasse Fehlentscheide zu verhindern. Um das Spiel zu retten und dem Schiedsrichter zu helfen, damit er nicht wie ein Idiot dasteht, wenn er als Einziger ein klares Hands-Tor nicht sieht. Wie damals die Hand Gottes von Maradona. Mittlerweile greift der VAR aber zu stark ins Spiel ein. Vielleicht machen sich auch die Video-Schiedsrichter zu viel Druck und suchen bei jeder Aktion zu intensiv nach einem Regelverstoss. Wer sucht, der findet immer etwas. Das will aber keiner. Die Schwelle fürs Eingreifen muss wieder höher werden.»

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Das Regelwerk ist zu kompliziert

Mit ein wichtiger Grund, weshalb es weltweit keine populärere Sportart als den Fussball gibt, ist, weil dessen Spielregeln simpel und seit Jahrzehnten quasi dieselben sind. Gilt sicher nicht mehr für die Hands-Regel! Da wurde so viel herumgedoktert, dass kaum einer mehr die Übersicht hat. Die aktuelle Ausgabe des Fussballmagazins «Zwölf» widmet seine Titelgeschichte gar dem umstrittenen Hands. Die grosse Frage: Was ist eine unnatürliche Vergrösserung der Körperfläche. Silvan Kämpfen, Autor der Geschichte, ist nach der Recherche nicht wirklich klüger als davor. «Selbst unter Schiedsrichtern gibt es unterschiedliche Auslegungen dieses Begriffs. Das sorgt für Verwirrung.»

Meier meint: «Hands oder nicht? Der grosse Streitpunkt, nicht nur im Schweizer Fussball, sondern weltweit. Nach dem gepfiffenen Penalty im WM-Final 2018 zwischen Frankreich und Kroatien, als Perisic seinen Arm eigentlich wegziehen will, wollte die Fifa die Hands-Regel vereinfachen, hat diese damit aber nur viel komplizierter gemacht. Mittlerweile hat man einige Erneuerungen wieder rückgängig gemacht. Das Beste wäre aber, man würde zurück auf Feld eins. Die einzigen Kriterien wären dann: «Absicht oder nicht?», «Geht der Ball zur Hand oder die Hand zum Ball?» und «Ist die Bewegung natürlich oder unnatürlich?»

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Zu wenig Fussball-Kompetenz

Einen Vorwurf, den man immer wieder hört: Im VOR (Video Operations Room) in Volketswil (ZH) sitze zu wenig Fussball-Kompetenz. St. Gallen-Stürmer Schubert forderte zuletzt ehemalige Profis als VAR? «Der Vorschlag ist gut. Ihre Erfahrung würde helfen», sagt der ehemalige Nati-Star und heutige SRF-Experte Beni Huggel und geht gar noch einen Schritt weiter. «Entscheidet man sich dazu, müsste man dies aber mit aller Konsequenz durchziehen. Das heisst: Ex-Spieler sollten geschult werden und eine Teilzeitstelle erhalten.» Eine Schulung wäre sogar Grundvoraussetzung. Denn das Reglement schreibt vor, dass nur Schiedsrichter mit Qualifikation Super League und Challenge League im Video Operation Room arbeiten dürfen.

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«Das Fussballverständnis bei den Schiedsrichtern muss wieder intensiver geschult werden.»
Blick-Schiedsrichter-Experte Urs Meier
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Meier meint: «Stimmt. Das Fussballverständnis bei den Schiedsrichtern muss wieder intensiver geschult werden. Nicht nur in der Schweiz, überall. Nicht nur als VAR, sondern auch auf dem Platz. Da könnten ehemalige Spitzenspieler und Trainer helfen. Was ist eine natürliche Bewegung? Was ist die Spielidee einer Mannschaft? Was ist ihre Taktik? Was ist demzufolge ein taktisches Foul? Ich bedauere es zum Beispiel sehr, dass ich Jürgen Klopp nicht zu Beginn meiner Schiri-Karriere kennengelernt habe. Gerade auf diesem Gebiet hätte ich viel profitieren können.»

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Der VAR macht den Schiri schlechter

Sind Sie bei einer Prüfung ebenso fokussiert, wenn Sie wissen, dass Ihnen geholfen wird, sollten Sie einen Fehler machen? Kaum! Dasselbe gilt auch für Schiedsrichter. Das Wissen, dass sich bei einem gravierenden Fehler der Operator in Volketswil einschalten wird, schärft die Sinne sicher nicht.

Meier meint: «Diese Überlegung hat was. Früher war ein Spiel wie ein Gang auf dem Hochseil. Fällst du, tuts verdammt weh. Heute ist der VAR da. Dein Fangnetz. Gut möglich, dass ein Schiedsrichter deshalb nicht mehr für die beste Position kämpft, nicht mit letzter Konsequenz den letzten Meter geht. Zudem haben wir die letzten Jahre so viel Energie, Zeit und Geld in den VAR investiert, dass der Ausbildung der Schiris zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt wurde. Ich will es so sagen: Wir können nun locker ein Auto mit Motor und Technik auseinandernehmen und wieder zusammenbauen, dafür haben wir Probleme mit dem Autofahren.»

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Es gibt zu wenig Schiedsrichter

In der Schweiz herrscht im Amateurbereich Schiedsrichter-Mangel. Das hat natürlich Auswirkungen bis nach ganz oben. Je weniger Leute, desto kleiner ist die Auswahl. Man tut beim Verband alles, um dem Schiri-Schwund entgegenzuwirken, man hat dazu sogar eine Homepage kreiert: www.werdeschiri.ch.

Meier meint: «In Deutschland ist der Schiri-Mangel noch akuter als in der Schweiz. Es gibt kaum Nachwuchs. In Bayern werden beispielsweise über 50 Prozent der Amateurspiele von über 60-jährigen Schiedsrichtern gepfiffen. Die Probleme sind aber auch bei uns offensichtlich. Woran liegts? Vor allem an mangelnder Wertschätzung. Und da denke ich nicht nur an die finanzielle Entschädigung, sondern auch an die kleinen Dinge wie ein Dankeschön nach dem Spiel oder einen Schluck Tee zur Pause. Leider längst keine Selbstverständlichkeit mehr.»

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Die Schiedsrichter stellen sich nicht

Trainer und Spieler müssen nach jedem Spiel Red und Antwort stehen. Schiedsrichter verschwinden üblicherweise nach dem Schlusspfiff direkt in die Kabine. Lausanne-Trainer Ludovic Magnin forderte schon letzte Saison eine Interviewpflicht für Schiedsrichter. «Ich erwarte, dass auch sie sich nach dem Spiel stellen.» Diese Woche ists passiert: Alessandro Dudic steht hin und erklärt sich nach dem Penalty-Fehlpfiff bei Basel gegen Zürich gegenüber Blue.

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«Schiedsrichter sollen sich erklären, das nimmt ganz viel Druck aus dem Kessel.»
Blick-Schiedsrichter-Experte Urs Meier
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Meier meint: «Dass Dudic hingestanden ist, fand ich super. Schiedsrichter sollen sich erklären, das nimmt ganz viel Druck aus dem Kessel. Aber nur bei grossen Fehlentscheiden und nicht direkt nach Spielschluss. Er kann erst etwas sagen, wenn er die Bilder gesehen hat.»

«Pfeifen müssten sie einmal – all diese Besserwisser!» Das sagt nicht Meier. Das hat Gottfried «Godi» Dienst († 1998) schon vor 47 Jahren gefordert. 1976 sagte der einstige Schweizer Spitzenschiedsrichter zur «Schweizer Illustrierten»: «Entscheiden in Sekundenbruchteilen, Verantwortung übernehmen. Die Kritiker würden dann sicher anders reden!» Fast ein halbes Jahrhundert später sind wir leider etwa am selben Punkt.

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