Köbi Kuhn über die legendäre Nacht von Sheffield
«Wir stiegen zu zwei Mädchen in den Mini»

«Ich hatte es faustdick hinter den Ohren», sagt Köbi Kuhn (75). Und lüftet das Geheimnis, wie er in der Nati wirklich ausgebüxt ist.
Publiziert: 17.04.2019 um 10:18 Uhr
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Aktualisiert: 17.04.2019 um 13:29 Uhr
Sherin Kneifl

Köbi Kuhn ist eine Legende im heimischen Fussball. Und Legenden ranken sich um ihn. Endlich spricht er Klartext über die Nacht vor dem ersten Match, das die Schweiz gegen Deutschland an der Fussball-WM 1966 in England bestritt. Muss man selbst ein guter Spieler gewesen sein, um auch als Trainer Erfolg zu haben? Diese Frage spaltet die Riege der Experten. Köbi Kuhn (75) war beides und ist zudem der einzige Schweizer, der in beiden Funktionen an einer Weltmeisterschaft teilnahm (1966 in England, 2006 in Deutschland). «Ich hatte es faustdick hinter den Ohren», sagt der Mann, der als Kultfigur auf dem grünen Rasen gilt. «Er hätte locker mit den grossen deutschen Namen wie Wolfgang Overath, Franz Beckenbauer oder Peter Grosser mithalten können», windet ihm auch Günter Netzer (74) ein Kränzchen. Der ehemalige Star-Kicker, Unternehmer und TV-Moderator glaubt, Kuhns 
Erfolg als Trainer lag darin, dass er sich in die Spieler hineinversetzen konnte. Eine Ansicht, welche die einstigen Nati-Kameraden Alex Frei, Ludovic Magnin und Daniel Gygax teilen. Auch der Ex-Fifa-Präsident Sepp Blatter weiss um diese Stärke seines Freundes Köbi Kuhn. Davon, dass der Zürcher wirklich alle Tricks auf und neben dem Platz kannte und ausreizte, zeugen unzählige Anekdoten.

Gerade um die «Nacht von Sheffield» kreisen viele Geschichten. Was geschah wirklich am Vorabend zum ersten WM-Match, das die Schweiz 1966 in England gegen Deutschland bestritt? Nur so viel vorweg: «Ich hätte damals als Coach anders reagiert. Vielleicht hat mich das Erlebnis Jahrzehnte später zu einem besseren oder zumindest zu einem souveräneren Trainer gemacht,» analysiert Kuhn. Der mit seinem grossen Verständnis für die Bedürfnisse der Mannschaft Erfolg hatte …

Im Buch schreibt Köbi Kuhn: «Nach dem Nachtessen etwa um 21.15 Uhr durften wir uns noch etwas die Beine vertreten. Ich zog mit meinem FCZ-Kollegen Werni Leimgruber und dem Ersatztorhüter Leo Eichmann los. Wir hatten alle unseren Trainingsanzug an, was unseren Bewegungsradius ausserhalb des Hotels doch stark einschränkte. Wie so oft war ich zu einem Scherz aufgelegt, und da wir gerade entlang der Strasse marschierten, streckte ich den Daumen zum Autostopp hoch. Zu unserer Verwunderung hielt tatsächlich ein Auto an, zwei Mädchen in einem Mini. Wir quetschten uns auf die Hinterbank. Englisch sprach nur ich, also übernahm ich das Reden.

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Die Mädchen wussten gar nicht, wer wir waren, und ich erklärte, dass wir Fussballer seien «from Switzerland playing at the World Cup». Weil wir im Sport-Tenue nicht in ein Restaurant konnten, luden sie uns auf ein Bier zu sich nach Hause ein. Etwa um 23.30 Uhr, rund 30 Minuten nach dem offiziellen Zapfenstreich, fanden wir uns wieder im Hotel ein.

Auf dem Gang vor unseren Zimmern sass der Nationaltrainer persönlich, Dr. Alfredo Foni. Er wünschte uns eine gute Nacht und wir gingen mit einem schlechten Gewissen ins Bett. Beim Zmorge bekamen wir gründlich den Kopf gewaschen: Wir hätten in unverantwortlicher Weise gegen die Mannschaftsdisziplin verstossen. Darum käme ein Einsatz gegen Deutschland nicht infrage.

Was für eine Enttäuschung! «Sollte man wirklich so viel Aufhebens machen wegen 30 Minuten?», fragte ich mich ungläubig. Obwohl mir einleuchtete, dass wir die Regeln nicht beachtet hatten und die Eskapade besser hätten sein lassen.

Die Aufstellung stand schon seit dem Vortag offiziell fest und wir würden nun fehlen: Der Skandal war perfekt – und wurde durchs Weitererzählen aufgebauscht. Manch einer glaubte gar, wir hätten den Anpfiff verpasst, weil wir noch bei den Mädchen gewesen wären.

Daraufhin bekamen wir natürlich auch Probleme mit unseren Frauen daheim, die von dem Vorfall erfahren hatten. Wie sollte man solch einen nächtlichen Ausflug erklären? Ich rief meine Alice an und schilderte ihr ehrlich die Ereignisse der vergangenen Stunden. Sie glaubte mir, vor allem auch, weil Werner Leimgruber einer der solidesten und treuesten Ehemänner und Väter war und sie wusste, dass er niemals einen Seitensprung begehen würde.

Die Schweiz verlor 0:5 gegen Deutschland in einem sehr offensiven Spiel im Hillsborough-Stadion mit dem jungen Münchner Franz Beckenbauer als Bestem auf dem Platz. 3000 Schweizer Schlachtenbummler waren angereist, man wehte mit Fähnchen und schwang Kuhglocken, doch die lautstarke Unterstützung nützte wenig. Werner Leimgruber und ich sassen nebeneinander auf der Tribüne und mussten kampf- und ein wenig verständnislos zusehen, wie die Kollegen unterlagen. Was sollten wir länger hier?, fragten wir uns und wollten heimfliegen.
Der Verband erkannte, dass man ohne uns im Mittelfeld die WM wohl abschreiben konnte. Die Idee: unsere Frauen einfliegen zu lassen, um eine gute Stimmung zu erzeugen, die uns zum Weitermachen animieren sollte. Dafür war es nicht gerade förderlich, dass unsere Kollegen, die sich ja regelkonform verhalten hatten, ihre Familien auch gern dabeigehabt hätten und ihrerseits deren Einreise verlangten, was umgehend abgelehnt wurde.

Unsere Bilder prangten auf den Titelblättern sämtlicher Zeitungen. Angeblich hatte der Delegationsleiter, der frühere Präsident des Schweizerischen Fussballverbands Ernst B. Thommen, die Journalisten buchstäblich auf Knien angefleht, den Vorfall nicht hochzuspielen.

Auch ein Cervelat-Essen mit den Reportern, für das er die Würste extra aus Basel hatte einfliegen lassen, erwies sich als vergebene Liebesmüh. Die Ankunft der Frauen (Frau Leimgruber kam sogar mit Söhnchen) wurde von den Medien ebenfalls gross ausgebreitet. Ein Verbandsmitarbeiter bereitete unsere Gattinnen psychologisch auf das Wiedersehen vor. Er erzählte von seinen eigenen Streichen im Ausland, dass Männer eben schnell für ein Seitensprüngchen bereit wären so fern der Heimat …

Der Haussegen hing schief

Aus einer Mücke war ein Elefant geworden. Der Haussegen hing richtig schief und ich musste schwören, dass rein gar nichts zwischen mir und den Mädchen vorgefallen war. Werni Leimgruber und ich kamen schliesslich gegen Spanien zum Einsatz. Unser Team hatte im Vergleich zum Deutschland-Match sieben neue Spieler auf dem Feld. Unser Verteidigungsblock hielt fast eine Stunde lang der Millionentruppe, die allein fünf Namen des Europacupsiegers Real Madrid inkludierte, stand.

Die englischen Kommentatoren zeigten sich voller Bewunderung für die Schweizer Halbprofis, bestehend aus 
Bäckern, Heizungstechnikern, Maschinenbauern, Mechanikern usw., gegen das Starensemble. Sie konnten sich kaum erklären, dass ein Land ohne Berufsfussballer sich für eine WM qualifiziert hatte. Als René Quentin nach 30 Minuten den Führungstreffer für uns erzielte, jubelten nicht nur unsere mitgereisten Anhänger. Auch die Engländer im Publikum sympathisierten mit dem Underdog. Allerdings zerstörten die Tore von Manuel Sanchis und Amancio Amaro unseren Traum vom Weiterkommen. Beim belanglos gewordenen 0:2 gegen Argentinien 
mühte ich mich 90 Minuten vergebens ab. Wir schieden punktelos aus. Die Hotelrechnungen und die Rückflüge für unsere Frauen mussten wir im Anschluss selbst begleichen! Zwei Monate später erhielt ich ein Telegramm vom Schweizerischen Fussballverband, ich wäre unbefristet für die Nationalmannschaft gesperrt. Meine telegrafische Antwort: Verzichte freiwillig auf weitere Berufungen.

So einfach wollte ich aber den meiner Ansicht nach völlig überzogenen Umgang mit der Angelegenheit nicht auf sich beruhen 
lassen. Werner Leimgruber, Leo Eichmann und ich erstatteten Strafanzeige gegen den Zentralvorstand des Schweizerischen Fussballverbands wegen Ehrverletzung. Das gerichtliche Hin und Her zog sich über zwei Jahre.

Keine Seite rückte von ihrem Standpunkt ab: Der Verband wollte die Sperren erst aufheben, wenn wir die Strafanzeige zurückzögen. Wir wollten dies nur unter der Bedingung tun, dass wir nicht mehr gesperrt waren. Die «Sport»-Zeitung schaltete sich als Vermittler in der Sackgasse ein und übernahm am Ende sämtliche Gerichts- und Anwaltskosten. Sie kaufte uns praktisch frei.»

Lesen Sie morgen Teil 3: Köbi Kuhn über seine alte und seine neue Liebe.

Hier weinte Köbi Kuhn um seine Alice
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Im letzten BLICK-Interview:Hier weinte Köbi Kuhn um seine Alice

 

Köbi National blickt zurück – Teil 2

Mit seiner Autobiographie, der der 75-Jährige zusammen mit der Autorin Dr. Sherin Kneifl verfasste, lässt der ehemalige Nati-Coach Köbi Kuhn die Höhen neu aufblühen und gewährt Einsichten in die Tiefen seines Lebens. Exklusiv im BLICK greift er relevante Ereignisse heraus.

 

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