«Der Kunstrasen wird den Schweizern nicht zusagen»
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Gibraltar-Stürmer Casciaro:«Der Kunstrasen wird den Schweizern nicht zusagen»

Gibraltars Stürmerstar Lee Casciaro
«Ich trinke jeden Tag Bier!»

Lee Casciaro ist der Seferovic von Gibraltar. Stürmerstar des Landes. Sonst ist er ganz anders als jeder Nationalspieler auf der Welt: Casciaro ist 38, Militärpolizist, liebt Bier und hasst modernen Fussball.
Publiziert: 17.11.2019 um 11:34 Uhr
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Aktualisiert: 17.11.2019 um 14:48 Uhr
Michael Wegmann (Text) und Toto Marti (Fotos)

Pünktlich um 17 Uhr fährt Lee Ca­sciaro auf dem Roller vor. Um 18 Uhr sollte Gibraltars Mittelstürmer im Training der Nationalmannschaft sein. Erst am Vorabend haben wir den 38-jährigen Mittelstürmer nach einem Meisterschaftsspiel für dieses Treffen angefragt. Trotz anschliessender Nachtschicht sagt der Militärpolizist spontan zu. So unkompliziert wie er zusagt, so ungefiltert redet der älteste Torschütze der aktuellen EM-Qualifikation.

BLICK: Herr Casciaro, Sie sind der beste Torschütze Gibraltars ...
Lee Casciaro: ... Papperlapapp. Ich bin nirgends der Beste. Ich bin Lee von Gibraltar.

Sie seien noch immer der schnellste Spieler des Landes, sagt Ihr Captain Roy Chipolina. Dann sind Sie sicher auch der schnellste Polizist des Landes?
Wahrscheinlich ist das so (lacht). Roy ist Captain, er wird es schon wissen.

Lee Casciaro ist der Top-Torschütze (3 Tore) von Gibraltar. Sein Geld verdient er aber als Militärpolizist.
Foto: TOTO MARTI
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Auf dem Platz jagen Sie dem Ball nach und daneben Verbrecher. Wie bringen Sie Fussball, Beruf und Familie unter einen Hut?
Ich kenne es nicht anders. Und ich habe eine verständnisvolle Frau zu Hause, die weiss, was Fussball mir bedeutet. Seit wir aber von der Uefa und der Fifa aufgenommen wurden, ist der Aufwand schon viel grösser geworden. Mit all den Reisen. Aber Verbrecher jage ich nicht wirklich, ich arbeite bei der Militärpolizei, und deshalb bin ich oft mit dem Boot vor der Küste unterwegs.

Wollten Sie eigentlich nie ausserhalb Gibraltars spielen?
Wie hätte das denn gehen sollen? Ich hatte gar keine Chance. Bevor wir von der Uefa und der Fifa aufgenommen wurden, hat sich keiner für uns interessiert. Spielten wir, waren nur unsere Eltern im Sta­dion. Heute ist es einfacher, sich zu zeigen: Wir haben Qualifikationsspiele gegen die Grossen, die Par­tien werden im TV übertragen. Es gibt Youtube. Und die Leute in Gibraltar haben mittlerweile auch genug Geld, um ihre talentierten Kinder zu fördern und nach Spanien rüberzuschicken.

Warum sollten sie das tun?
In Spanien ist die fussballerische Ausbildung qualitativ noch immer viel besser als hier. Hätte ich einen fussballbegeisterten Sohn, ich würde ihm dies ermöglichen. Aber ich habe eine Tochter, die mässig fussballbegeistert ist (lacht).

Trotz dieser Entwicklung sind Sie mit 38 im Sturmzentrum noch gesetzt. Warum?
Diese Entwicklung trägt wohl noch keine Früchte (lacht). Ich spüre noch nicht mal Druck von den Jungen. Da ist bisher keiner, der mich beerben könnte.

Es gibt rund 3000 lizenzierte Fussballer in Gibraltar. Wie viele davon würden Sie als potenzielle Nationalspieler bezeichnen? 30?
Nein, nein. Weniger.

20?
Lassen wir das lieber sein (lacht).

Tönt, als müssten Sie noch lange spielen.
Ich spiele, solange ich kann. So­lange mich meine Beine tragen.

Macht Ihnen Fussball so viel Spass?
Fussball ist nicht Spass. Fussball ist mein Leben. Oder meinen Sie, es mache mir immer Spass, nach einem harten Arbeitstag am Abend noch bei Regen nach Spanien hinüberzufahren, um zu trainieren? Nicht wirklich! Aber zum Glück regnet es hier so selten.

Falls doch einmal Schluss sein sollte, werden Sie dann Trainer?
Nein, dafür fehlt mir die Geduld. Höre ich mit Fussball auf, gehe ich wohl ab und zu noch ins Stadion, trinke dort ein Bier und quatsche mit. Ansonsten will ich mit dem Fussball nichts mehr zu tun haben. Sie müssen wissen: Ich hasse den heutigen Fussball.

Warum?
Er ist längst kein männlicher Sport mehr. Richtige Männer spielen heute Rugby. Beim Fussball windet sich andauernd jemand am Boden. Das ist zum Schämen. Aber mich nervt etwas noch weit mehr als das divenhafte Getue der Fussballer.

Was denn?
Fussballer sind doch mittlerweile Roboter. Alles wird ihnen vorgeschrieben, alles wird überprüft. Jeder weiss, was er wie und wann tun muss. Auf dem Feld und daneben! Nach den Partien werden Hunderte Daten analysiert: Da steht, wie viele Kilometer man gelaufen ist, wie viele Fehlpässe man gespielt, wie viele Zweikämpfe man geführt hat, und so weiter. Statistik ist heute alles! Meinen Sie, das hat früher irgendeinen der grossen Fussballer interessiert? Einen Maldini oder Van Basten. Einen Laudrup, Del Piero oder Batistuta. Ich liebte den damaligen Fussball.

Wir dachten, Sie seien glühender Fan von Manchester United.
Das war ich mal. Heute läuft der TV zwar immer noch, wenn ManU spielt. Aber mehr als Hintergrundrauschen ist es nicht mehr.

Wir schauen auf die Uhr, es ist bereits 17.44. «Kein Stress, Freunde. Ich habe ja gestern gespielt. Wenn ich später komme, ist das nicht so schlimm», sagt Casciaro. Dieser Mann sagt nicht nur, was er will. Er tut auch, was er will.

Kennen Sie einen Schweizer Nationalspieler?
Dass Xhaka bei Arsenal spielt, weiss ich, weil unser Captain Roy ein grosser Arsenal-Fan ist. Und dann gibt’s noch Shaqiri. Spielt er überhaupt noch bei Liverpool?

Ja. Im Moment ist er aber verletzt. Er fehlt auch gegen Gibraltar.
Ah, okay. Mehr Schweizer kenne ich wirklich nicht. Der Fussball, den ich liebe, ist aus einer anderen Zeit.

Dann trinken Sie also nach den Spielen noch mit den Fans ein Bier?
Sicher! Sogar mehrere (lacht). Die jüngeren Spieler tun das nicht, aber ich darf das. Ich trinke sogar jeden Abend Bier. Ich esse auch, worauf ich Lust habe. Oder besser: Ich esse, was meine Frau kocht. Und es muss ja nicht täglich Gemüse sein. Ich werde nicht mehr schneller. Auch nicht, wenn ich mich ab sofort nur noch gesund ernähre.

Tauschen Sie mit Ihren prominenten Gegnern die Leibchen?
Längst nicht mehr. Ich wohne in einer kleinen Wohnung am südlichen Zipfel Gibraltars. Ich habe keinen Playstation-Raum wie andere Fussballer, auch kein Billardzimmer. Mir fehlt der Platz. Soll ich die Leibchen in einer Kiste im Keller lagern? Da mache ich lieber den Kids von Gibraltar eine Freude und schenke ihnen meine Shirts.

Er zückt sein Handy und zeigt eine Liste mit einem Dutzend Kindernamen, die sich seine Shirts mit der «Nummer 7» wünschen. Jetzt ist es 18.05 und Casciaro macht noch immer keine Anstalten ins Training zu gehen. Wir haben Mitleid mit seinem Nati-Trainer und verabschieden uns.

Haben Sie noch einen Restaurant-Tipp?
Am Hafen hat es ein tolles Restaurant. Ich mag die mediterrane Küche Spaniens lieber als das britische Fish & Chips. Am liebsten würde ich mitkommen und euch noch ein wenig rumführen. Denn es gibt keinen besseren Ort zum Leben als Gibraltar.»

Helm auf, Motor an. Bevor Casciaro Gas gibt, ruft er: «Vergesst nicht, einen Jack Daniels, Wein oder Zigaretten mitzunehmen, die sind in Gibraltar viel billiger. Und falls noch Fragen sind, einfach melden. Ich stehe im Telefonbuch.»

Persönlich

Lee Casciaro kommt am 29. September 1981 in Gibraltar zur Welt. Es gab Zeiten, da spielte er mit seinen Brüdern Kyle (31) und Ryan (35) in der Nationalmannschaft. Die jüngeren beiden werden nicht mehr aufgeboten, er ist noch dabei. Seit März 2015 ist Lee ein Volksheld. Da erzielt er beim 1:6 in der EM-Quali gegen Schottland das erste Pflichtspieltor Gibraltars. Ein Jahr später trifft er für Lincoln zum 1:0-Sieg gegen Celtic Glasgow. Erneut historisch!

Lee Casciaro kommt am 29. September 1981 in Gibraltar zur Welt. Es gab Zeiten, da spielte er mit seinen Brüdern Kyle (31) und Ryan (35) in der Nationalmannschaft. Die jüngeren beiden werden nicht mehr aufgeboten, er ist noch dabei. Seit März 2015 ist Lee ein Volksheld. Da erzielt er beim 1:6 in der EM-Quali gegen Schottland das erste Pflichtspieltor Gibraltars. Ein Jahr später trifft er für Lincoln zum 1:0-Sieg gegen Celtic Glasgow. Erneut historisch!

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Du und ich als Nati-Stars!

Das meint BLICK: Stv. Fussball-Chef Michael Wegmann

Roy und Lee sind aus Gibraltar. Roy ist Zollbeamter. Lee Militärpolizist. Roy hat zwei Buben. Lee ein Mädchen. Roy ist 36. Lee 38. Täglich fahren sie nach Feierabend über die Grenze zum Training.

Roy und Lee sind wie du und ich. Und andere fussballverrückte Amateure. Sie leben für den Fussball, aber nicht von ihm. Und doch sind Roy und Lee anders. Nicht nur, weil ihre Namen nach grossem Sport klingen. Roy Chipolina und Lee Casciaro sind Stephan Lichtsteiner und Haris Seferovic von Gibraltar. Captain und Stürmerstar des Landes.

Als wir sie besuchen, ist Liga-Alltag. Roy wird geschont, Lee spielt. Für ihn ist mit Schlusspfiff Arbeitsbeginn. Der Militärpolizist hat Nachtschicht. Easy, Alltag.

Wie auch, dass Lee und Roy für die Spiele in Dänemark und gegen die Schweiz Ferien beziehen müssen. Oder wie die Ausbeute von
0 Punkten aus total 27 EM- und WM-Qualispielen – mit dem Torverhältnis 7:128.

All das kann ihre Fussballbegeisterung nicht bremsen. Seit Gibraltar 2013 in die Uefa und 2016 in die Fifa aufgenommen wurde, leben sie ihren Traum. Deinen. Meinen. Und der von Millionen Amateurfussballern. Sie spielen gegen Lukaku, Lewandowski, Neuer. Gegen die Grossen der Welt.

Gibraltars Fussballer gehören zu den Kleinsten der Kleinen. Ein grosses Turnier? Unvorstellbar. Doch mit ihrem Enthusiasmus, Idealismus und Stolz sind sie irgendwie längst schon Weltmeister! – Und mit ihnen auch ein wenig du, ich und alle Amateure.

Ab sofort – oder besser: ab Dienstag nach dem Spiel gegen die Schweiz – drücke ich den sympathischen Amateuren die Daumen!

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