Ex-Wagenchef von Sauber: «Wäre fast bei Ferrari gelandet»
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Michael Schumacher wollte ihn:Ex-Wagenchef von Sauber: «Wäre fast bei Ferrari gelandet»

«Man versuchte, mich fertigzumachen»
Sauber-Insider packt über die Formel 1 aus

Der knallharte Umgang in der Formel 1 setzte Sergio Bonagura zu. Jahrelang log er seine Familie an. Der ehemalige Wagenchef von Sauber spricht über Drogen und Deals unter den Teams.
Publiziert: 29.07.2023 um 09:48 Uhr
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Aktualisiert: 29.07.2023 um 12:07 Uhr
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Nicola AbtReporter Sport

Nach Jahren wiedervereint. Sergio Bonagura (54) steht vor fünf Formel-1-Boliden. «Die habe ich alle selbst zusammengebaut.» Von 2001 bis 2005 war er Wagenchef bei Sauber. In der Autobauerlebniswelt in Romanshorn TG blickt er zurück.

Was aus Ihrer Formel-1-Zeit werden Sie nie mehr los?
Noch heute sind meine Teller nach zwei Minuten leer.

Dann sind Sie schneller beim Dessert.
(Lacht) Stimmt! Aber auf dem Rennplatz hattest du nicht einmal Zeit für das. Wir rannten los, schnappten uns etwas am Buffet, stopften es ins Maul und rannten zurück zur Garage. Manchmal haben wir das Essen auch vergessen.

Wie bitte?
Vor lauter Stress geht alles andere unter. Ganz schlimm war mein erstes Wochenende als Wagenchef im Jahr 2001 in Australien.

Erzählen Sie.
Im Schnitt schlief ich von Donnerstag bis am Sonntag zwei bis drei Stunden pro Nacht. Das Auto fiel permanent auseinander, und in der Formel 1 gilt: Du gehst erst ins Bett, wenn alles erledigt ist. Arbeitsgesetze gab es dazumal noch keine. Heute dürfen die Boliden nach 18 Uhr nicht mehr angefasst werden.

Ein Leben mit Motoren

Aufgewachsen ist Sergio Bonagura in Wil SG. Als Jugendlicher träumte er von einer Fussballkarriere. Er absolvierte eine Lehre als Metallbauschlosser und Schweissfachmann. Ende 1994 folgte der Wechsel zu Sauber. Von 2001 bis 2005 war er als Wagenchef tätig. Mit dem Einsteig von BMW veränderte sich seine Rolle. Bis 2010 spielte er den Feuerwehrmann. «Wenn es irgendwo brannte, war ich zur Stelle.» Seit 2011 arbeitet Bonagura in der Autobranche im Import.

Aufgewachsen ist Sergio Bonagura in Wil SG. Als Jugendlicher träumte er von einer Fussballkarriere. Er absolvierte eine Lehre als Metallbauschlosser und Schweissfachmann. Ende 1994 folgte der Wechsel zu Sauber. Von 2001 bis 2005 war er als Wagenchef tätig. Mit dem Einsteig von BMW veränderte sich seine Rolle. Bis 2010 spielte er den Feuerwehrmann. «Wenn es irgendwo brannte, war ich zur Stelle.» Seit 2011 arbeitet Bonagura in der Autobranche im Import.

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Wie hat Ihr Körper auf die Belastung reagiert?
Nicht gut. Im Hotel kämpfte ich jeweils mit Bauchkrämpfen. Gleichzeitig wusste ich, dass der Druck am anderen Morgen wiederkommt. Das war der Horror. In dieser Zeit nahm ich rasant zu.

Es war eine Hass-Liebe. Sergio Bonagura sitzt auf dem Reifen des Formel-1-Autos von Sauber aus dem Jahr 2001.
Foto: URS BUCHER
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Das heisst?
15 Kilogramm innerhalb weniger Monate.

Haben Sie sich Hilfe geholt?
Auf keinen Fall! Ich wäre von den anderen Mechanikern ausgelacht worden. Sich Schwächen eingestehen wollte niemand. Ob es einem gut oder schlecht geht, spielte keine Rolle. Du musstest deine Leistung bringen, sonst warst du fehl am Platz.

Wie sahen Ihre freien Tage aus?
Ich lag zu Hause im Bett. Oft wurde ich krank, schottete mich ab. Mein Umfeld log ich jahrelang an. Wenn sie mich fragten, wie es mir geht, ging der Daumen nach oben. Dabei war ich ein Wrack.

Trotzdem haben Sie keinen Arbeitstag verpasst.
Krank sein gibt es in der Formel 1 nicht. Ich stand mit 40 Grad Fieber neben dem Auto.

Wieso tut man sich das an?
Es ist ein Privileg. Nur ganz wenige Leute schaffen den Sprung in die Formel 1. Die Leidenschaft für Autos und der Ehrgeiz, immer besser zu werden, trieben mich an.

Und der Lohn war bestimmt auch nicht schlecht.
Wie viel schätzen Sie?

Wohl so 10'000 Franken im Monat.
Nicht ganz. In den besten Jahren zwischen 7000 und 8000 Franken.

Ist doch nicht schlecht!
Na ja, denken Sie einmal an die Überstunden. Die wurden uns nicht bezahlt. Nach der x-ten Überstunde in einer Saison habe ich jeweils aufgehört zu zählen. Willkommen in der Formel 1.

Sie kamen als junger Mechaniker zu Sauber. Wie war Ihr Start?
Katastrophal. Man versuchte, mich fertigzumachen. Es fing am ersten Arbeitstag in der Werkstatt von Sauber an. Das ganze Team sass während einer Pause am Tisch. Dann ergriff einer das Wort. ‹Was wollt ihr mit dem? Der gehört nicht zu uns. Von mir aus könnt ihr den gleich wieder nach Hause schicken›, polterte er. Nicht direkt in meine Richtung, aber ich wusste, dass ich gemeint war.

Was erlebten Sie sonst noch?
Wenn meine Schicht jeweils fertig war, ging ich zu den Mechanikern, die die Formel-1-Autos zusammenbauen. Ich fragte sie, ob ich ihnen helfen könnte. Eines Abends drückte mir jemand einen Schraubenschlüssel in die Hand und forderte mich auf, eine Mutter zu lösen. Keine fünf Sekunden später meinte er: ‹So, wie du den Schraubenschlüssel in der Hand hältst, wird aus dir nie ein Formel-1-Mechaniker. Gib mir das Werkzeug und geh nach Hause.›

Wie haben Sie reagiert?
Gar nicht. Ich liess meine Leistungen für mich sprechen. Ich wurde Wagenchef, er nicht.

Gingen Sie gern zur Arbeit?
Nein, in dieser Zeit nicht. Ich sass teilweise in einem Kämmerchen und hatte Tränen in den Augen. Diese Zeit war ein grosser Test. Wenn du mit diesen harten Worten nicht lernst umzugehen, bist du falsch in der Formel 1.

Starker Regen setzt ein. Er prasselt auf das Stoffdach in der Autobauerlebniswelt in Romanshorn. Man versteht kaum mehr etwas.

An welchen Grand Prix erinnert Sie dieses Wetter?
Brasilien 2003. Ein Desaster. In unserem Auto sass Heinz-Harald Frentzen. Er stand bereits auf seinem Startplatz, als der Regen einsetzte. Das ganze Team rannte an die Box. Dort stand das Ersatzauto, das auf Regen abgestimmt war. Plötzlich schrie einer am Funk: ‹He! Euer Auto rollt rückwärts die Strecke hinunter.› Voller Panik sprintete das Team zurück. Zum Glück waren die Streckenposten zur Stelle. Zurück an der Box fielen alle Computer aus. Eine Katastrophe. Irgendwie gelang der Start doch noch. (Frentzen fuhr auf den fünften Rang, Anm. d. Red.)

Wie gingen die Mechaniker generell mit der Hektik im Formel-1-Zirkus um?
Es wurde eine Menge Drogen konsumiert in der Formel 1. Dazu Alkohol getrunken oder starkes Zeugs geraucht.

Haben Sie mitgemacht?
Nein. (Überlegt lange) Wobei ...

Ja?
... ein paar Mal habe ich versucht, den Druck im Alkohol zu ertränken. Weil es die anderen machen, ziehst du mit.

Hat es geholfen?
Nein. Mein Sportlerherz sträubte sich dagegen. Dafür habe ich eine andere Methode entwickelt.

Stichwort Inlineskating.
Genau! (Lacht) Während freien Minuten habe ich mir die Inlineskates angeschnallt und bin über die Strecke gedüst. Nach einiger Zeit kannte mich jeder. Die Streckenposten schrien jeweils: ‹Achtung, jetzt kommt der Verrückte wieder.› So bekam ich auch mein Gewicht in den Griff. Ab der Saison 2002 war ich topfit und konnte besser mit dem Druck umgehen.

Das bekam auch der Chef, Peter Sauber, zu spüren.
Definitiv. Ich traute mich endlich, meine Meinung zu sagen. Wenn er wieder einmal bei meinem Auto stand und etwas kritisierte, schickte ich ihn zurück an seinen Platz. Das imponierte ihm. Davor hatte er mich oft getestet.

Wie?
Er stand neben mir, zeigte auf seine Uhr und meinte: ‹Herr Bonagura, warum fahren wir nicht?› So baute er zusätzlichen Druck auf. Er will sehen, wie du reagierst. Verfällst du in Hektik? Wirkst du unsicher? Wenn ja, ist das dein Todesurteil. Herr Sauber war fair, aber knallhart.

Hat er sich dafür ab und zu entschuldigt?
Nicht direkt. Am Abend kam er manchmal zu mir. In einer ruhigen Minute. Ohne Kameras. Dann wechselten wir privat ein paar Worte. Ich merkte, er möchte sich jetzt für den aufgesetzten Druck entschuldigen. Aber so richtig wollte ihm das nie gelingen.

An Ihrem letzten Rennwochenende als Wagenchef 2005 knallte es noch einmal zwischen Ihnen.
Und wie! Daran ist das SRF nicht unschuldig. Kommentator Michael Stäuble führte vor den Rennen jeweils ein Interview mit Peter Sauber – vor unserer Box. An diesem Tag verspätete sich Herr Sauber. Ich erklärte Stäuble, dass ich bald den Motor starten muss. Für ihn kein Problem. Er werde das Gespräch danach weiterführen. Die Zeit lief, mir blieb keine Wahl. Ich startete den Motor.

Wie ging es weiter?
Sofort drehte sich Peter Sauber um. Wütend stapfte er auf mich zu. Ich sass im Wagen. Meine Mechaniker verschwanden. Sie wussten, was kommen würde. In aller Ruhe machte ich die letzten Checks und stellte den Motor ab. Dann polterte Sauber los. Er schrie, was ich für ein ‹Schnuderbueb› sei und dass diese Aktion noch Konsequenzen haben werde.

Was geschah danach?
Nichts. Es war eine leere Drohung. Ärger gab es eher mal von einer anderen Seite.

Von wem?
Den Rennkommissären.

Was haben Sie verbrochen?
Verbrochen ist etwas übertrieben. Wir bewegten uns vielfach am Limit. Dabei haben wir auf Wunsch vom Fahrer noch eine Kleinigkeit am Fahrwerk geändert. In diesem Fall aber die Parc-fermé-Regel missachtet. Während dieser Zeit sind Änderungen nicht erlaubt.

Währenddessen hat Sie der Kommissär erwischt?
Nein, aber er sah den Unterschied vom Qualifying zum Rennen. Der Kontrolleur stand immer in der Garage und war sehr aufmerksam. Aber auch er konnte nicht permanent auf das Fahrzeug schauen und war ab und zu abgelenkt.

Wie meinen Sie das?
Wenn es heiss war, bot man ihm gern auch mal ein Wasser oder ein Glacé an, das er sich aus der Kühltruhe holen konnte, die hinter der Garage stand.

Welche Strafe setzte es ab?
Wir mussten aus der Boxengasse starten. Auch da hatte ich dann ein weiteres etwas direkteres Gespräch mit dem Chef, der natürlich alles andere als erfreut war.

Ein Einzelfall?
Nein, das denke ich nicht. Bei den anderen Teams hat man sich da sicher auch am Limit oder darüber bewegt. Lass dich nicht erwischen, war das Motto. Heute aber unvorstellbar, weil bezüglich Reglement alles sehr professionell überwacht wird.

Ist noch weiteres vorgefallen?
Beim Fahrer Jacques Villeneuve mussten wir ebenfalls kreativ sein. Seine Nackenmuskulatur war zu schwach. In den Kurven konnte er seinen Kopf kaum in der Mitte des Fahrzeugs halten. Also organisierte ich zwei kleine Polster. Diese konnte er zwischen dem Helm und der Wand des Cockpits platzieren. Während der Aufwärmrunde nahm Villeneuve diese hervor und platzierte sie am richtigen Ort. Kurz nach Rennende schmiss er die Polster noch während der Fahrt weg.

Von wem kamen die Anweisung zu diesen Tricks?
Der Fahrer hat das mit dem Ingenieur abgesprochen und mir weitergeleitet. Ob Peter Sauber etwas davon wusste? Ich glaube nicht.

Gab es Deals unter den Teams?
Das kam sicher vor. Wir hatten dieselben Motoren wie Ferrari. Als wir neue Heckflügel mitbrachten, waren wir plötzlich deutlich schneller auf der Geraden als sie. Daraufhin wollten sie unser Tempo-Geheimnis wissen. Sie bekamen unseren Wunderflügel, der am Reglement-Limit war, und vermutlich bekamen wir dann einen anständigen Rabatt beim Kauf der ultrateuren Motoren. (Schmunzelt)

Wieso sind Sie heute nicht mehr in der Formel 1?
Ich musste mich irgendwann entscheiden: Formel 1 oder Privatleben? Ich wählte Letzteres und zog mich 2010 vom Rennsport zurück. Ich war froh darüber, aber etwas machte mich traurig.

Was?
Nach meinem Rücktritt wendeten sich viele vermeintliche Kollegen von mir ab. Ich war nicht mehr interessant für sie. Heute weiss ich dafür, wer die wahren Kollegen sind.

Was machen Sie am Sonntag um 15 Uhr?
Wenn das Wetter schlecht ist, schaue ich das Formel-1-Rennen in Belgien.

Nur wenn das Wetter schlecht ist?
Ja, der Sommer ist kurz. Lieber geniesse ich die Zeit draussen mit meiner Freundin. Aber die Formel 1 ist wieder ein grosser Teil von meinem Leben. Ich lese jeden Artikel darüber, unterhalte mich mit Leuten aus der Szene.

Das tönt nach einem Comeback.
(Lacht) Das Projekt mit Audi und Sauber klingt spannend. Wer weiss, wenn das richtige Angebot kommt ...

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