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«Jenni fliegt wie Peter Pan»
Vor 22 Jahren kams zum Wendepunkt im Schweizer Hockey

Mit zwei Toren in 191 Sekunden tritt Marcel Jenni am 6. Mai 1998 eine Euphorie-Welle los. Und lanciert die Ära Krueger.
Publiziert: 06.05.2020 um 20:06 Uhr
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Aktualisiert: 06.05.2020 um 20:07 Uhr
Angelo Rocchinotti

Zwei Spiele. Zwei Pleiten. Die Heim-WM in Zürich und Basel droht im Fiasko zu enden. Torhüter Reto Pavoni steht in der Kritik. Und mit ihm Trainer Ralph Krueger, der vor dem Turnier Renato Tosio, Felix Hollenstein und Sven Leuenberger aus dem Kader streicht.

Schon Kruegers Engagement war umstritten. Nicht alle im Verband sprachen sich für die Absetzung von Simon Schenk aus. «Wir bekamen von überallher aufs Dach», erinnert sich Ex-Nati-Stürmer Marcel Jenni.

Um es nach den Niederlagen gegen die USA (2:5) und Schweden (2:4) doch noch in die Zwischenrunde zu schaffen, muss die Schweiz im letzten Vorrundenspiel Frankreich mit vier Treffern Differenz schlagen und fünf Tore erzielen. Daueroptimist Krueger lässt in der Kabine den Schweizerpsalm laufen, fordert seine Jungs auf, etwas Positives zu denken. Gleichzeitig legt er sich schon mal eine Ansprache zum vorzeitigen Out zurecht.

Marcel Jenni (links, neben Gian-Marco Crameri) schiesst die Schweiz mit zwei Toren ins Glück.
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Jenni merkt nicht, dass der Goalie fehlt

Statt EVZ-Meistergoalie Ronnie Rüeger stellt Krueger den erst 20-jährigen David Aebischer, der seit einem Monat kein Spiel mehr bestritten hat, für Pavoni ins Tor. Jenni: «Aebischer hat hervorragend gespielt. Er war heiss.» Doch bis drei Minuten vor Schluss führt die Schweiz «nur» 3:1. Bis Jenni zuschlägt.

Der damals 24-Jährige erhöht auf 4:1. «Ein Backhand-Schuss unter die Latte. Der kam gut.» Zur Verblüffung der 8900 Fans im Hallenstadion ersetzen die Franzosen 70 Sekunden vor Schluss ihren Torhüter durch einen sechsten Feldspieler. Frankreich wäre nun Letzter, braucht ein Tor, um sich in der Platzierungsrunde vorzeitig den Ligaerhalt sichern zu können. «Ich war dermassen fokussiert, dass ich erst gar nicht merkte, dass kein Torhüter mehr im Kasten stand», sagt Jenni.

Der Lugano-Stürmer kommt an die Scheibe, läuft aufs leere Tor zu – und trifft 14 Sekunden vor Schluss zum 5:1. «Der Puck sprang. Ich musste mich konzentrieren, damit ich traf.» Die Schweiz steht dank des besseren Torverhältnisses in der Zwischenrunde. Und zum Matchwinner avanciert ausgerechnet Jenni, der im Jahr zuvor an der B-WM in Weissrussland wegen Nachtschwärmerei noch mit 5000 Franken gebüsst wurde. «Sicher? Daran kann ich mich nicht erinnern.»

«Kamen in einen Flow»

Jenni löst über Nacht eine Euphorie aus. «Die Leute blieben an Kiosken und vor Schaufenstern stehen, verfolgten an den laufenden TV-Geräten unsere Spiele. Alle waren euphorisch, im Stadion herrschte eine riesige Stimmung. Wir sind geflogen.» Jenni, der an sieben Weltmeisterschaften und zwei Olympischen Spielen teilnahm, sagt: «So etwas habe ich bei einer WM nie mehr erlebt.»

Die Schweiz ist den Druck los, schlägt einen Tag nach dem Sieg gegen Frankreich erstmals an einer WM Russland (4:2). Jenni erzielt das erste Tor und bereitet das zweite vor. Der heute 46-Jährige, der nächste Saison die U18-Nati coachen wird, ist der Star des Turniers. «Er fliegt übers Eis wie Peter Pan», schreibt BLICK damals. «Ich war gut drauf, steckte voller Energie. Nach dem Frankreich-Spiel kamen wir in einen Flow.»

Der Zürcher, der 2002 von Krueger nach einem nächtlichen Ausflug zusammen mit Reto von Arx von den Olympischen Spielen ausgeschlossen wurde, spricht von einem Wendepunkt im Schweizer Eishockey. «Mit Ralph kam ein frischer Wind. Bewusstsein und Selbstwertgefühl wandelten sich. Plötzlich dachten wir, unsere Möglichkeiten seien unbegrenzt. Wir wussten, dass wir jeden Gegner schlagen können, wenn wir als Team auftreten.»

Schweizer verstecken sich nicht mehr

Der heutige ZSC-CEO Peter Zahner amtete damals als Nati-Manager. Er sagt: «Ralph glaubt an das Unmögliche und strahlt diese Zuversicht aus. Er schaffte es, dass alle talentierten Spieler, die immer viel zu früh aufgegeben hatten und an einem Minderwertigkeitskomplex litten, sich nicht mehr versteckten.»

Die Schweiz stösst nach der Jenni-Show bis in den Halbfinal vor, verliert dann aber zweimal gegen Schweden (gegen wen denn sonst?) und verpasst gegen Tschechien Bronze. Der vierte Platz bleibt 15 Jahre lang das beste Ergebnis. Bis die Silberjungs von Sean Simpson ihn 2013 toppen.

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