«Dann sässe ich jetzt im Rollstuhl»
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Hockey-Legende Martin Gerber
«Dann sässe ich jetzt im Rollstuhl»

Wir waren Helden! Martin Gerber (46) über ein Treffen mit Bush, Autofahren mit zehn, einen Fax mit einer unglaublichen Summe drauf und einen Flugzeugabsturz mit 44 Toten.
Publiziert: 18.04.2021 um 14:36 Uhr
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Aktualisiert: 06.05.2021 um 15:22 Uhr
Daniel Leu (Interview) und Benjamin Soland (Foto)

Martin Gerber, Sie müssen es wissen: Wie ists im Weissen Haus?
Martin Gerber: Recht cool. Die ganze Maschinerie, die dahintersteckt, ist beeindruckend. Schon Wochen vor dem Besuch musste man allerlei Unterlagen und Dokumente einreichen. Man wurde quasi von Kopf bis Fuss durchleuchtet.

Das Ganze war 2006, nachdem Sie mit den Carolina Hurricanes den Stanley Cup gewonnen hatten. Sie durften dann beim Empfang sogar dem damaligen US-Präsidenten George W. Bush die Hand schütteln. Hat er mit Ihnen geredet?
Nein, der wusste doch gar nicht, wer ich bin. Bush hat sich auch nicht sonderlich fürs Eishockey interessiert. Er hat mir einfach die Hand geschüttelt, und das wars.

Vom Emmental ins Weisse Haus – eine unglaubliche Geschichte. Lassen Sie uns bei Ihrer Kindheit starten. Wie wuchsen Sie auf?
Ich war das sechste und letzte Kind. Das war super für mich, weil die Eltern dann nicht mehr so sehr auf einen geachtet haben. Ich habe selten gefragt, sondern einfach gemacht, und wurde sehr schnell sehr selbständig.

Eine Legende: Gerber spielte in Nordamerika, Schweden, Russland und der Schweiz.
Foto: BENJAMIN SOLAND
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Ihre Eltern waren arm. Hat Sie das gestört?
Nein, nie. Ich hatte eine super Kindheit. Es stimmt zwar, dass wir kaum Geld hatten. Ich musste deshalb natürlich jeweils die Klamotten der Älteren nachtragen und bekam auch nie ein neues Velo geschenkt. Doch das war mir egal.

Wie wohnten Sie?
In einem schönen, alten Haus. Mit einem grossen Garten, in dem man wirklich noch Kind sein konnte. Der einzige Nachteil: Wir hatten noch eine Holzheizung. Im Winter hatten wir deshalb in der Küche manchmal Minusgrade.

Gab es Ferien im Hause Gerber?
Nur einmal, da schenkte uns eine Vereinigung zwei Wochen Tessin. Trotzdem hatten wir immer schöne Ferien. Wir halfen Freunden beim Heuen, gingen auf die Alp – und ich lernte schon früh Auto fahren …

Wie alt waren Sie da?
Etwa zehn Jahre. Das war damals völlig normal. Sitz nach vorne schieben, und dann fuhr ich im ersten oder zweiten Gang in einer Kiesgrube rum. In dieser Zeit lernte ich auch Bagger fahren. Glauben Sie mir: Als Bub macht es mehr Spass, Bagger zu fahren, als am Strand Ferien zu machen. Mir hat definitiv nie etwas gefehlt.

Der Legende nach wurden Sie Goalie, weil Ihre Eltern kein Geld hatten.
Das stimmt zum Teil. Damals stellte der Klub den Goalies die Ausrüstung kostenlos zur Verfügung. Deshalb stand ich ins Tor, weil wir uns die Ausrüstung eines Feldspielers schlichtweg nicht leisten konnten. Hinzu kam, dass ich ein schlechter Schlittschuhläufer war.

Bei den SCL-Junioren konnten Sie sich aber nicht durchsetzen. Angeblich hätte es ohne Hanspeter Bissegger, den damaligen Gemeindeschreiber von Signau, den späteren Hockey-Star Gerber nicht gegeben.
Er war damals für den Goalie-Nachwuchs zuständig. Nach einer Saison in Langnau wolle ich aufhören. Ich war im Vergleich zu meinen Teamkollegen einfach zu wenig gut. Doch dann kam Hämpu und überredete mich weiterzumachen.

Hatten Sie einen Plan B?
Ja, einfach Teenager sein …

Haben Sie heute manchmal den Gedanken: «Was wäre, wenn ...?»?
Nein. Hätte es den Profi-Hockeyspieler Gerber nicht gegeben, wäre das nicht schlimm gewesen. Dann wäre ich vielleicht als Forstwart genauso glücklich geworden.

Sie blieben aber dem Hockey treu und wechselten mit 17 Jahren nach Signau in die 2. Liga.
Das Spezielle daran: Ich war dort zu Beginn nicht mal der Stammgoalie. Deshalb erhielt ich von der Nummer 1 zu Weihnachten beim Wichteln ein Jo-Jo geschenkt. Damit ich während den Spielen etwas zu tun hätte und nicht nur das Türchen für ihn öffnen müsse.

Ein Trainer sagte damals zu Ihnen: «Wenn du es bis in die 1. Liga schaffst, hast du das Maximum aus dir rausgeholt.» Haben solche Sprüche Sie geärgert?
Nein, das war halt seine Meinung. Doch ich habe noch nie jemanden gesehen, der die Lottozahlen richtig voraussagen kann. So ist es auch bei Karrieren.

Warum haben ausgerechnet Sie es trotzdem geschafft und viele andere nicht?
Ich habe immer einen Weg gesucht und auch gefunden. Und ich war sicher extrem ehrgeizig. So wie ich früher nicht auf meine Eltern gehört hatte, habe ich später auch nicht auf jeden Trainer und sogenannten Experten gehört.

Doch auch nach Ihrer nächsten Station Thun in der 1. Liga schien eine Profikarriere sehr weit weg zu sein.
Ich erhielt damals von Saas-Grund ein Angebot aus der 1. Liga. Ich hätte dort 1000 Franken verdient, hätte halbtags Hockey gespielt und halbtags am Skilift gearbeitet. Wir waren uns damals mündlich schon einig. Hätte ich es angenommen, wärs es das wohl gewesen mit einer späteren Profikarriere. Doch dann bot mir der SCL an, als dritter Goalie ins NLB-Team zu kommen.

Wie viel verdienten Sie damals in Langnau?
500 Franken brutto, plus Wohnung. Das war wirklich cool. Auf einmal bekam ich fürs Hockeyspielen Geld.

Persönlich Martin Gerber

Stanley-Cup-Sieger in den USA, Meister in Schweden, Spieler in Russland, Cupsieger in der Schweiz: Martin Gerber (46) ist der einzige Schweizer, der in den vier wichtigsten Hockey-Ligen der Welt auflief – und Erfolge feierte.

Der Goalie spielte hierzulande für Langnau (Aufstieg in die NLA 1998) und Kloten (Cupsieger 2017), in Schweden für Färjestad (Meister 2002), Växjö und Rögle, in Russland für Atlant Mytischtschi und in der NHL für Anaheim (Stanley-Cup-Final 2003), Carolina (Stanley-Cup-Sieger 2006), Ottawa (Stanley-Cup-Final 2007), Edmonton und Toronto.

Auch mit der Nati feierte er grosse Erfolge: 2013 gewann er WM-Silber, und 2006 an den Olympischen Spielen hexte er die Schweiz zum Sensationssieg gegen Kanada.

Heute ist der dreifache Familienvater bei den SCL Tigers Stufenleiter U13 und kümmert sich als Goalietrainer um die Talente.

Stanley-Cup-Sieger in den USA, Meister in Schweden, Spieler in Russland, Cupsieger in der Schweiz: Martin Gerber (46) ist der einzige Schweizer, der in den vier wichtigsten Hockey-Ligen der Welt auflief – und Erfolge feierte.

Der Goalie spielte hierzulande für Langnau (Aufstieg in die NLA 1998) und Kloten (Cupsieger 2017), in Schweden für Färjestad (Meister 2002), Växjö und Rögle, in Russland für Atlant Mytischtschi und in der NHL für Anaheim (Stanley-Cup-Final 2003), Carolina (Stanley-Cup-Sieger 2006), Ottawa (Stanley-Cup-Final 2007), Edmonton und Toronto.

Auch mit der Nati feierte er grosse Erfolge: 2013 gewann er WM-Silber, und 2006 an den Olympischen Spielen hexte er die Schweiz zum Sensationssieg gegen Kanada.

Heute ist der dreifache Familienvater bei den SCL Tigers Stufenleiter U13 und kümmert sich als Goalietrainer um die Talente.

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Ein gutes Jahrzehnt später unterschrieben Sie in der NHL einen Dreijahresvertrag über 11,1 Millionen US-Dollar. Welche Erinnerungen haben Sie an jenen 2. Juli 2006?
Zusammen mit einem Freund sass ich auf der Terrasse des Hotels Hirschen in Langnau und ass etwas. Ich wusste von drei, vier Teams, die Interesse an mir hatten. In ein, zwei Stunden ging dann alles über die Bühne. Damals wurde noch gefaxt. Deshalb musste ich im Hirschen immer wieder hoch zum Faxgerät im Büro laufen. Irgendwann hatte ich mich dann mit Ottawa geeinigt.

Wie gings dann weiter?
Die schickten einem einen Fax mit der Lohnsumme drauf, den man dann wiederum unterschrieben zurückschickte.

In diesem Moment wussten Sie: Jetzt werde ich Multimillionär! Was haben Sie als Erstes gemacht?
Ich glaube, nochmals was zum Essen bestellt, weil das andere bereits kalt war (lacht). Und natürlich hat man dann auch ein Gläschen Wein getrunken. Gleichzeitig war ich mit meinen Gedanken bereits in Ottawa. So einen Vertrag zu unterschreiben, ist nicht einfach. Man entscheidet damit, wo man die nächsten Jahre seines Lebens verbringen wird.

Trotz Ihres Millionengehalts fuhren Sie in Nordamerika einen VW Passat. Was sagten Ihre Mitspieler dazu?
Die fanden das lustig. Doch für mich war das Auto perfekt. Im Winter braucht man keinen teuren Sportwagen, sondern ein zuverlässiges Allradauto. Und das war er.

Viele NHL-Stars ticken anders und präsentieren ihren Reichtum liebend gerne. Wie gingen Sie damit um?
Auch mir gefällt zum Beispiel eine schöne Uhr, doch ich muss keine besitzen. Wenn ich jeweils mit ein paar Mitspielern in einen Uhrenladen ging, kauften sie sich eine und ich schaute sie mir einfach nur an. Das reichte mir vollkommen.

Dass Geld völlig unwichtig sein kann, erfuhren Sie später in Russland. Als Sie dort mit einem Gegenspieler kollidiert sind, wären Sie fast im Rollstuhl gelandet.
Wäre ich im Nackenbereich nicht so muskulös gewesen, sässe ich Ihnen jetzt im Rollstuhl gegenüber. Ja, ich hatte Glück gehabt, denn ich hätte mir beinahe das Genick gebrochen. Die ersten Minuten und Stunden nach dem Unfall waren schwierig. Ich hatte unglaubliche Schmerzen, wusste aber nicht warum. Und ich konnte mich mit kaum jemandem verständigen, weil alle nur Russisch sprachen.

Wie wars im russischen Spital?
Du darfst nicht nach Russland gehen und das Gefühl haben, dort sei es genau gleich wie hier. Es ist eine völlig andere Welt. Ich musste mir im Spital sogar selber einen Halskragen kaufen, den sie mir dann umgelegt haben. Aber eben: «That’s Russia», sagten sie mir immer.

Zu den Auswärtsspielen flogen Sie immer in einem alten Flugzeug. Hatten Sie da nie Angst?
Nur weil etwas alt ist, muss es nicht schlecht sein. Aber ja, diese Flugzeuge waren schon gewöhnungsbedürftig und brauchten auf der Startbahn immer ewig, bis sie abhoben. Die Bosse sassen jeweils vorne auf den schönen Holzsitzen und wir Spieler hinten wie die Hühner auf dem Stängeli. Irgendein Spieler sagte beim Start immer: «Sorry, Boys, das wars!» Und wenig später stürzte ja das Flugzeug von Lokomotive Jaroslawl auch wirklich ab, und nahezu die ganze Mannschaft kam ums Leben.

Kannten Sie die Spieler?
Zum Teil schon, mit Ruslan Salej zusammen hatte ich in Anaheim gespielt, und mit den Tschechen von Jaroslawl trafen wir uns manchmal in Moskau zum Essen. Das war schon krass. Rätsch, bumm – und alle waren tot. Und du weisst, dass du sie nie mehr sehen wirst. Das macht einem schon nachdenklich.

2013 kehrten Sie zu Kloten in die Schweiz zurück. Ein Training im Frühjahr 2018 beendete schliesslich Ihre Karriere.
Ich bekam damals einen Puck an die Maske. Nichts Spektakuläres. Doch ich litt offenbar zu diesem Zeitpunkt noch immer an einer Hirnerschütterung, die nie richtig ausgeheilt war.

Durch die Verletzung gab es nie ein Abschiedsspiel. Sie kehrten einfach nicht mehr aufs Eis zurück. Machte Sie das traurig?
Glauben Sie mir, ich hatte damals andere Sorgen und war auch nie ein Freund von Abschiedsspielen. Die ersten eineinhalb Jahre brauchte ich, um überhaupt wieder einen halbwegs normalen Alltag bestreiten zu können. Dabei half mir auch mein Wald.

Sie besitzen einen Wald?
Ja. Ein Wald ist nicht wie ein Auto, das du einfach mal so kaufst. Mit einem Wald kaufst du dir Zeit. Nach meiner Hirnerschütterung war ich oft alleine im Wald. Das war das Einzige, was mir damals wirklich geholfen hat. Mein Wald – das ist mein Luxus.

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