Überlebenstraining für Entwicklungshelfer
SonntagsBlick-Reporter entführt!

Unser Reporter geriet in Geiselhaft – im Kanton Nidwalden. Er durfte ­nach dem Ausbildungs-Camp der Schweizer Armee wieder nach Hause. Seinen Kameraden droht echte Gefahr.
Publiziert: 15.07.2018 um 10:00 Uhr
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Aktualisiert: 10.10.2018 um 12:22 Uhr
Überleben als Geisel
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Überlebenstraining für Entwicklungshelfer:SonntagsBlick-Reporter entführt!
Tobias Marti

Zum Teufel, dann halt rein in die Suppe! Ich werfe mich auf den Boden, ein Albtraum aus Schlamm und Matsch. Robbe, suche Deckung, der Fischerhut klatscht ins Gesicht. Wasser rinnt in den Ärmel, der Pulli saugt sich auf. Grausig kalt für einen Tag im Frühsommer – sowieso gerade eine eher unangenehme Situation. In den Büschen hocken Soldaten und ballern mit Sturmgewehren auf uns. Ab und zu kreischt eine Granate durch die Luft, dumpfe Einschläge. «Den Kopf ganz runter auf den Boden», mahnt der Instruktor. Und wir kriechen los.

Es fing alles ganz harmlos an: Mit einem Mann, der auch als Surflehrer durchgehen würde. Pascal Kohler ist gross, schlank und locker drauf. «Das Ziel ist schon, dass ab und zu der Puls steigt», sagt er und lächelt tiefenentspannt. Wir, das sind 24 Leute aus zwölf Ländern, die meisten NGO-Mitarbeiter, die sich für Hilfswerke in Krisengebiete ­wagen – und ich, ein Journalist. Alles Zivilisten. Was erwähnenswert ist, denn wir befinden uns in einer Kaserne. Bei der Swissint in Stans-Oberdorf NW, wo die Schweizer Armee Soldatinnen und Soldaten für Auslandseinsätze ausbildet.

Die Entwicklungshelfer lernen in Stans die Risiken kennen

Pascal Kohler trägt Uniform, ist ­Berufsoffizier und mit 40 Jahren schon Oberstleutnant. Er leitet unseren Kurs, für den Teilnehmer aus den USA, Neuseeland und aus Syrien nach Stans gereist sind. Kohler und seine Männer sollen uns lehren, wie man in der Fremde seine Mission erfüllt, ohne dabei zu sterben. Der Kurs ist gratis, für viele Hilfsorganisationen ein zentraler Punkt. Die Warteliste ist lang.

Sicherheit dürfe nicht wegen fehlender Gelder ein Problem sein, so die Swissint. Darum solle keiner Zielgruppe der Zugang versperrt werden. Und weil in Stans schon alles vorhanden ist – Unterkunft, Verpflegung, Personal – sind die Kosten gemäss Swissint sehr tief. Und auch Stans profitiert. Die Schweizer Soldaten machen hier seit 2012 erste Bekanntschaft mit internationalen Helfern, auf die sie später im Auslandeinsatz treffen werden. Der Kurs führt zu einem Wissenstransfer. Man lernt sich besser kennen und baut Kontaktängste ab. «Wenn es bei einer Übung gar nicht mehr geht», erklärt Pascal Kohler, «ruft einfach real, real, real!». Wer das Codewort sagt, muss nicht mehr mitmachen.

Eine Gruppe internationaler Hilfswerk-Mitarbeiter fährt in einen Einsatz, um Flüchtlinge in ihrem Camp zu besuchen.
Foto: Thomas Meier
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Apéro am Abend. Bierchen in der einen, Käseküchlein in der anderen Hand. Von Gefahr sind wir so weit weg wie Disneyland von Damaskus. Einer scherzt, wie grimmig es in anderen Ländern bei so Kursen zu- und hergeht. In Jordanien wurden die Teilnehmer in der Nacht aus ihren Betten geholt. Abmarsch zur spontanen Übung in die Wüste. Wir nuckeln an unseren Flaschen und geniessen die Schauergeschichte. «Bier hatten sie in Jordanien wohl keines», sagt ein Scherzkeks. Wir ­lachen übermässig.

Wir hatten den Schrecken nicht kommen sehen

Drei Tage später. Vielleicht waren wir bereits zu verwöhnt. Abgesehen vom Robben im Schlamm waren die Tage zwar lang, entpuppten sich aber nicht als übermässig schockierend. Oft machte es sogar Spass: Bei einer Waffendemonstration wurde mit Schrotflinten auf Innereien geschossen, wir waren im Fahrtraining, übten Kartenlesen, lernten zu funken. Die Soldaten ­waren sehr nett zu uns, wir schliefen in modernen Einzelzimmern, wurden bekocht, ja bemuttert. Jedenfalls ­haben wir den Schrecken nicht kommen sehen.

Es ist die letzte Schulstunde des Tages, wir haben längst abgehängt, alle freuen sich aufs Grillfest am Abend. Ein Deutscher lästert noch: «Hoffentlich grillen die Schweizer keinen Käse.» Dann bricht die Hölle los. Maskierte stürmen zur Tür rein, der Deutsche schaut verdattert. Worüber ich mich leider nicht wirklich freuen kann. Ich habe gerade eine Kalaschnikow unter der Nase. Die Typen mit den Sturmmasken brüllen. Wir stürzen uns auf den ­Boden. Heftiges Gepolter. Die netten Schweizer konnten nun doch sehr grob werden.

Oh, mein Gott, jetzt machen sie die Baracke zu Kleinholz. Tische und Stühle krachen ­zusammen. Zack, zieht mir einer einen Sack über den Kopf. Kabelbinder um die Hände und hochgezerrt. «Wo gehen wir hin?», stammle ich. «Halt die Fresse», knurrt einer. Rein in einen Minibus, neben mir keucht eine Geisel unnatürlich. Panikattacke? Nur Umrisse sind erkennbar.

Wir brettern davon, holpern über Feldwege. Ein Sadist dreht das ­Radio auf, SRF 1 plärrt in voller Lautstärke. Die wollen uns fertigmachen. Ankunft in einer Halle, in der es mit den Stresspositionen losgeht, also Dauerknien und Hände hoch. Zwischendurch greift mir ­einer ins Gesicht, hier ein Rempler, da ein Stoss von hinten. Und wieder hochgezerrt. Ich muss meine ­Taschen leeren. Adieu Smartphone und Portemonnaie.

Und wieder los, abermals irre Fahrt. Mittlerweile völlig orientierungslos. Aussteigen, einer zerrt an mir, Blindekuh-mässig torkle ich durchs Gelände, rein in eine Hütte. Wieder hinknien, was langsam schmerzhaft ist. Und zum ersten Mal passiert nicht mehr viel. Für ­Sekunden? Minuten? Stunden? Immerhin bin ich nicht allein, ich höre andere Geiseln husten. Einmal kommt noch ein Schurke vorbei, um uns zu nerven. Er schmatzt sein Abendessen, rülpst, furzt, und das war es dann. Ansonsten wird es nur noch kälter und langweilig. Mein Fuss juckt zunehmend, ich kratze heimlich. Aus dem Nichts ein höllischer Schrei. Ein Bär packt mich am Nacken, wirft mich zu Boden, hält mir eine Waffe an den Kopf. «Das nächste Mal stirbst du!», faucht er. Der Spielraum ist jetzt gleich null, die Typen haben mich im Visier.

Die Stunden als Geisel fühlen sich an wie Tage

Irgendwann krallt sich der Oberschurke eine der Frauen. «Tanz mit mir», haucht er. Die Ärmste wimmert, ihre Stimme tönt verzerrt. Ich höre, wie er sie in einen separaten Raum bringt. Was passiert jetzt? Stille. Riiinnngggg ... sein Telefon klingelt, und er lässt von ihr ab. Zum Glück. Die Vorstellung hat mich mitgenommen. Ich hätte mich in der Situation nur schwer zurückhalten können. Was in echt wohl tödlich wäre. Die deutschen Ausbildner, erzählt später jemand, ­mögen es bei dieser Übung einen Zacken härter. Die legen sich auf die Teilnehmerinnen drauf und simulieren die Vergewaltigung.

Es ist fast Mitternacht, als wir freikommen. Fünf Stunden als Geisel fühlten sich an wie fünf Tage. Oder wie eine halbe Stunde. Wer weiss das schon so genau, das Zeitgefühl hatte sich längst verabschiedet. Und was genau ist das Codewort gewesen? Vergessen.

In der Kaserne gibt es Bündner Gerstensuppe, und zum Dessert kommen die Terroristen vorbei, um sich bei uns vorzustellen. Zwei ­Dutzend Soldaten – und eine Soldatin – haben bei der Übung mitgemacht, sogar ein Arzt und ein Psychologe waren dabei. Wir klatschen brav. Am meisten Applaus bekommt natürlich der Oberschurke. Das fällt wohl unter Stockholm-Syndrom. Zum Ausklang sitzen die Teilnehmer herum und reden aufeinander ein. Die Ersten führen schon wieder eine grosse Klappe. Es sind die Gleichen, die vor einer Stunde noch Schnappatmung hatten.

Schon wieder werden wir verschleppt

Es naht der Freitag mit der finalen Übung. Im Grunde besteht diese ­darin, im Jeep in Nidwalden herumzufahren und an Checkpoints von den Ausbildnern in Angst und Schrecken versetzt zu werden. Erst danach gibt es das Diplom.

Wir sind zu viert in der Gruppe: Baba aus Nigeria, Enzo aus Italien, Mariana aus Deutschland und ich. Am Vorabend brüten wir im Gasthof Schützenhaus über der Aufgabe. Was für Überraschungen haben sie für uns noch in petto? Wir beginnen, ein paar Grosse zu heben. Das heisst, Baba nicht, der trinkt Ovomaltine. Er wolle ein paar Schweizer Spezialitäten ausprobieren, sagt er. Ausserdem ist er unser Fahrer. Irgendwann an dem Tag wurde auch beschlossen, dass ich das Himmelfahrtskommando anführen sollte.

Showdown am Freitag: Schon bei der zweiten Übung werden wir ­wieder verschleppt. Diesmal prak­tischerweise gleich mitsamt unserem Jeep. Es folgt der bekannte Ablauf, einfach noch gröber. Am Ende knien wir wieder in der Pampa, gefesselt und mit einem Sack über dem Kopf. Mit dem Unterschied, dass es diesmal nur ein Überfall und keine Geiselnahme ist, denn die Typen sind bereits wieder verschwunden.

Also schütteln wir uns den Sack ab. Zufällig sah ich zuvor, wie einer der Gangster unseren Wagenschlüssel in den Wald geschmissen hatte. Also nichts wie hin, es ist Zeit zu ­verschwinden. Booom! Voll auf die Mine getreten. Wasser spritzt aus der Attrappe, der Instruktor grinst, meine Leute schauen blöd. Damit habe ich mich als Chef selber erledigt.

Nächste Übung: Ein Wanderer zeigt hysterisch auf ein Auto, das in einem Graben liegt. «Falle oder Unfall?», fragen wir uns. Langsam werden wir paranoid. Wir steigen aus. Im Auto sitzen zwei Männer, beide verletzt. Wieso auch immer beginnt die Karre auch noch zu brennen. Wir zerren die beiden raus.

Wiederbelebungsversuch. In unserem Rücken strolcht noch immer der ausgeflippte Wanderer herum. Und dann kommt auch noch ein Bauer hinzu. Irgendwie scheint der mit den beiden Verletzten kein Mitleid zu haben. Halb-wahnsinnig beginnt der hinter­hältige Kerl auf einmal, mit seinem Hirtenstock auf das blutende Bein des einen Verletzten einzuhauen. Ich gehe dazwischen, halbe Keilerei, ­totales Tohuwabohu. Auf Teufel komm raus will mir der Bauer plötzlich seine Felder zeigen. Jene Äcker, bei denen schon von weitem die ­Minenwarnschilder zu sehen sind. Endlich der erlösende Abpfiff der Instruktoren.

Da drüben beim Coop lauert Gefahr

Mittlerweile sind wir völlig verunsichert. Im Schritttempo rumpeln wir im Jeep durch Nidwalden, alles scheint uns suspekt. Harmlose Bauern könnten sich als heimtückische Heckenschützen entpuppen, Wanderer als hinterhältige Wegelagerer. Bei einer weiteren Übung trotten wir wie Schlachtlämmer durch einen Minengarten, ausserdem nimmt uns noch ein Kriegsverbrecher ins Gebet. Kurz: Für die letzte Übung sind wir weichgekocht: Besuch eines Flüchtlingslagers. Zuerst lungern die Menschen nur apathisch herum, werden dann aber schnell aufdringlich. Binnen weniger Minuten bedrängen uns 20 Flüchtlinge und verlangen eine Mitfahrgelegenheit. Es wird Zeit für einen schnellen Abgang.

Baba, unser Fahrer, geht zum Jeep. Die Meute entert mittlerweile unseren Wagen, ein Dutzend sitzt schon drin, sogar auf dem Dach hocken welche. Wir stehen ums Auto und wissen nicht, was tun. Plötzlich startet jemand den Motor, das setzt uns in Betrieb. Als wir die Fahrertür erreichen, trauen wir unseren Augen nicht: Baba sitzt hinter dem Steuer an seinem angestammten Platz, bereit, loszufahren. Tatsächlich hätte er uns ­allein in dieser Schlangengrube zurück­gelassen! Wir lachen uns schlapp, sogar die als Flüchtlinge verkleideten Soldaten halten sich die Bäuche vor Lachen.

Dann ist die Woche vorbei, der Kurs zu Ende. Khaled reist zurück ins Bürgerkriegsland Syrien. Baba fliegt retour nach Nigeria, wo er sich mit der Terrortruppe Boko Haram herumschlagen muss. Enzo wird nur Tage später nach Afghanistan entsendet. Wer weiss, vielleicht wird ihnen der Kurs einmal das ­Leben retten.

Ich sitze an einer Tramstation in Zürich, das Diplom in Händen. Mit dem Rücken zur Wand, um unliebsame Überraschungen zu vermeiden. Gegenüber beim Coop loka­lisiere ich einen Gefahrenherd: ­Junge Typen grölen und trinken Bier. Rechts von mir redet einer verdächtig laut, links biegt einer etwas zu schnell um die Ecke. Ich spanne meine Muskeln, meine Sinne sind geschärft, bereit zur Flucht.

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