Thomas Hürlimann neuer Roman «Heimkehr»
Die Sterne, der Himmel!

Nach zwölf Jahren erscheint am 23. August endlich ein neuer Roman des Schweizer Autors Thomas Hürlimann. «Heimkehr» ist ein furioses sprachliches Feuerwerk.
Publiziert: 19.08.2018 um 10:21 Uhr
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Aktualisiert: 22.09.2018 um 18:34 Uhr
«... und setzte mich zum Sterben hin»: Thomas Hürlimann auf einer Sitzbank seines Wohnorts Walchwil ZG.
Foto: Lunax
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Daniel Arnet

Ein Autounfall: «… hoch oben ein Punkt, ein Blinken, ein Zwinkern, ein Stern, ein ­Satellit oder ein Flugzeug … Der Wagen liegt auf der Fahrer­seite. Ein Vorderrad dreht sich noch, ein paar Schneeflocken zu einer dünnen Flamme aufwirbelnd.»

So beginnt «Heimkehr», der erste Roman seit 2006 des Schweizer Schriftstellers Thomas Hürlimann (67). Ein volles Dutzend Jahre sind seit «Vierzig Rosen» vergangen, aber «Heimkehr» ist alles andere als Dutzendware: Mit seiner brillant geschliffenen Sprache strahlt das neue Buch wie ein Solitär.

Treffend kündigt der Verlag den Roman als «das Lebensbuch von Thomas Hürlimann» an, das Vermächtnis eines Mannes, der dem Tod schon ins Auge sah: «Kurze ­Story meiner Auferweckung» titelte Hürlimann 2015 einen «Zeit»-Artikel nach der Operation an seiner verkrebsten Prostata, doch kürzlich musste er wegen eines erneuten Spitalaufenthalts die 1.-August-Rede in seiner Wohngemeinde Walchwil am Zugersee und Interviewtermine mit Journalisten absagen.

Die Familiengeschichte Hürlimanns in drei Büchern

Hürlimann ist einer der wortmächtigsten deutschsprachigen Autoren. Seinen ersten Bestseller landet er 1989 mit der Novelle «Das Gartenhaus» und bespielt danach mit ­seinen Dramen «Der letzte Gast» (1991), «Der Gesandte» (1991), «Das Lied der Heimat» (1998) und «Das Einsiedler Welttheater» (2000 und 2007) die grossen Bühnen in Deutschland, Österreich und der Schweiz.

Um die Jahrtausendwende sorgt Hürlimann vor allem mit der Prosatrilogie «Der grosse Kater», «Fräulein Stark» und «Vierzig Rosen» für Furore. In diesen drei Büchern verarbeitet er virtuos verklausuliert seine Familiengeschichte mit dem jeweiligen Fokus auf Vater, Mutter und Sohn.

«Der grosse Kater» von 1998 ist der Schlüsselroman über seinen Vater, Bundesrat Hans Hürlimann (1918–1994), und sorgt wegen seiner schonungslosen Schilderung des Politischen im Privaten für Aufruhr. 2009 kommt die Verfilmung mit Bruno Ganz (77) in der Rolle des Katers in die Kinos.

2001 folgt mit der Novelle «Fräulein Stark» das Buch aus Sohnessicht: Darin verarbeitet der Autor seine Jugend vor dem Eintritt in die Klosterschule Einsiedeln. Sex und Judentum sind Themen des Werks. Hürlimanns Onkel empört sich öffent­lich, und Marcel Reich-Ra­nicki (1920–2013) bezichtigt den Schriftsteller im «Literarischen Quartett» des Antisemitismus.

In «Vierzig Rosen» von 2006 ­umschreibt Hürlimann schliesslich das aufopfernde Leben seiner ­Mutter Marie-Theres Hürlimann-Duft (1926–2001): Sie verliert früh ihre Mutter, wächst beim Vater auf und steuert auf eine Musik­karriere zu – da trifft sie den aufstrebenden Jungpolitiker.

Von Sizilien über Afrika und Zürich bis ins Berlin vor 1989

Katz und Kater, die Protagonisten aus diesen Büchern, treten in «Heimkehr» wieder auf, und im Zentrum des neuen Romans steht abermals eine Vater-Sohn-Geschichte. Jetzt heissen die Haupt­figuren Heinrich Übel senior und junior: Der Alte ist Fabrikbesitzer der Gummiwerke im fiktiven Fräcktal, der Junge textet in der dortigen Reklameabteilung den Produktekatalog. Verkaufsschlager sind Kondome, «Dr. Übels Verhüterli».

Das Verhältnis zum Sohn ist nicht ungetrübt, und der Vater kalauert: «Mein lieber Abfall, du bist weit vom Stamm gefallen.» Sie trennen sich – bis 18 Jahre nach dem Rausschmiss der Patron ruft. Der Junior brettert mit einem geliehenen Chevro­let ins Fräcktal und verunfallt kurz vor dem Ziel auf vereister Strasse.

Ein Unfall, wie er sich im Leben von Thomas Hürlimann tatsächlich zugetragen hat. «In einer schwierigen Phase meines Lebens hat es mich aus der Kurve getragen», sagt Hürlimann in einem Gespräch mit seinem Lektor Jürgen Hosemann (51). «Es war zwei Uhr nachts, die Welt schlief. Ich wankte von der Brücke, wo es passiert war, ans Ufer und setzte mich zum Sterben hin.» Was er in diesem Moment erlebt habe, sei keine Angst gewesen, sondern eine absolute Hochstimmung: «Die Sterne, der Himmel! Ich glaubte über die Grenze in eine andere Welt zu schweben.»

«… hoch oben ein Punkt, ein ­Blinken, ein Zwinkern, ein Stern, ein Satellit oder ein Flugzeug …» So sieht der Ich-Erzähler Heinrich Übel junior in «Heimkehr» seinen Unfall. Und als er später in Sizilien aufwacht und sich fragt, wie er hierhergekommen ist, vergewissert er sich seiner selbst: «Ich bin mir nicht abhandengekommen, ich kenne meinen Namen, den Vornamen, das Geburtsdatum: Heinrich Übel junior, geboren am 21. Dezember 1950 im Fräcktal.»

Exakt das Geburtsdatum von Thomas Hürlimann. Und wie sein Protagonist landet auch der Poet nach seinem Autounfall auf Sizilien – eingeladen von seinem damaligen Verleger Egon Ammann (1941–2017). Das Verlagsende 2010 und Ammanns letztjähriger Tod dürften mitunter Gründe sein, weshalb Hürlimann so lange kein Buch ­veröffentlicht hat, denn die beiden verband eine enge Freundschaft. Das Manuskript von Hürlimanns erstem Erzählband «Die Tessinerin» bewog Ammann 1981 zur Gründung eines eigenen Verlags.

«Vom Unfall hatte ich eine schlimme Narbe an der Schläfe», sagt Hürlimann, «und erst allmählich begriff ich, dass sie mir den Respekt der ­Sizilianer eintrug.» In ihren Augen ist er ein richtiger Mann, der seinen Gegnern die Stirn bietet. «Da verband sich der Unfall mit dem rauschenden sizilianischen Frühling, der Tod mit der Auferstehung – das war die Initialzündung für den Roman.»

«Heimkehr» ist ein furioses Feuerwerk, ein autobiografisches Buch, ein Vater-Sohn-Roman und ein abenteuerliches Roadmovie. Eine Odyssee, die den Ich-Erzähler von Sizilien über Afrika und Zürich bis ins Berlin vor dem Mauerfall 1989 bringt.

In Zürich beschreibt Hürlimann spöttisch die Schickimicki-Szene: «Der Feuilletonchef der NZZ (mit weissem Pudel), Traxel & Moff ­(einander ignorierend), Stadtrat Läuchli-Burger, der grosse Psycho-Bloom sowie die übliche Schar von Seelenklempnern ...»

Bücher bleiben, Reden verhallen

In West-Berlin nimmt Heinrich Übel junior am Siebten Internationalen Gummikongress teil – mit der Hoffnung, im Osten der Stadt die schöne DDR-Funkwerkerin zu treffen, die ihm auf Sizilien ein drahtloses Telefon schmackhaft machen wollte. «Es wäre eine bahnbrechende, vielleicht die DDR rettende ­Erfindung gewesen, wenn man ihr nicht ein falsches Gehäuse verpasst hätte», sagt Hürlimann dem Lektor. Das drahtlose Telefon ist nämlich ein klobiger Ohrensessel.

Mit solchen humoristischen Einfällen zeigt sich der Katholik Hürlimann von seiner ausschweifenden, üppigen Seite und nicht von der verbissen dogmatischen wie in seiner ungehaltenen 1.-August-Rede von Walchwil. Darin prangert er den Begriff der Toleranz als ein ­anderes Wort für Feigheit an.

«Diese Toleranzfahne eignet sich bestens dazu, über den Sarg unserer Kultur gelegt zu werden», steht im Redemanuskript, das die «Schweiz am Wochenende» abgedruckt hat. «Denn ich wiederhole: Toleranz ist eine Koketterie von Sterbenden. Wer sich nicht mehr behauptet, wer nur noch erduldet, was auf ihn zukommt, der wird zur Leiche und verschwindet aus der Geschichte.»

Doch Toleranz macht Geschichten, wie gerade «Heimkehr» exemplarisch zeigt. Hürlimann lässt darin zu, präsentiert eine breite Palette an An- sowie Aussichten und schliesst nicht a priori aus. Er wertet nicht, wohlwissend, dass Literatur keine Politik ist. Bücher bleiben, Reden verhallen. Gute Belletristik steht weit über dem Tagesgeschehen.

«… hoch oben ein Punkt, ein Blinken, ein Zwinkern, ein Stern, ein Satellit oder ein Flugzeug …» Der erste Satz aus «Heimkehr» erinnert fatal an den Schluss von Urs Widmers (1938–2014) letztem Buch «Reise an den Rand des Universums»: «Die Raffinerie, die eben noch eine schwarze Silhouette ­gewesen war, erstrahlte plötzlich in tausend Lichtern. Gelb, orange, rot.» Wie ein Raumschiff, das bereit sei, zu einer Reise an den Rand des Universums zu starten.

Es gibt allerdings einen Unterschied: Wirft Widmer einen Blick auf die Welt, schaut Hürlimann in den Himmel von der Erde aus. Möge das noch lange so bleiben.

Thomas Hürlimann: «Heimkehr», S.-Fischer-Verlag, 524 Seiten, ab 23. August im Buchhandel

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