Rechthaberei bringt Fantasie in Verruf
Die Magie der Fiktion

Wahr oder Fake? In der gegenwärtigen Schwarz-Weiss-Diskussion geht die bunte Welt menschlicher Fantasie vollkommen unter. Ein Rettungsversuch.
Publiziert: 12.09.2018 um 17:51 Uhr
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Aktualisiert: 14.09.2018 um 23:06 Uhr
Alice in Wonderland (im Zeichentrickfilm von 1951 nach dem Kinderbuch von Lewis Carroll).
Foto: Hipp-Foto
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Daniel Arnet

Ein Wort macht weltweit Karriere: Fake. Die Verwendungskurve des englischen Ausdrucks für «Fälschung», «Schwindel» zeigt auch im Digitalen Wörterbuch der deutschen Sprache steil nach oben. Und das Stapferhaus in Lenzburg AG fühlt ab Ende Oktober in der Ausstellung «Fake. Die ganze Wahrheit» der Lüge auf den Zahn.

Seit der Machtergreifung von US-Präsident Donald Trump (72) ist dieser Begriff in aller Munde. Einerseits bezeichnet Trump ­kritische Medienberichte ständig als «fake news» und twittert im Hinblick auf das Enthüllungsbuch «Fear» von Watergate-Journalist Bob Woodward (75), das am Dienstag in den Handel kommt, auch von «fake books». Anderseits rechnet der Fakten-Checker der «Washington Post» vor, wie häufig der Präsident schwindelt. Demnach lügte er im August durchschnittlich 15 Mal am Tag. Es geht also ausschliesslich um Wahrheit und Unwahrheit.

Wie Sektenführer pochen beide Seiten mit religiösem Eifer darauf, die Realität richtig darzustellen. Gewiss: Politiker wie Medien sind der Wahrheit verpflichtet. «Ist einer wie Sie wirklich stark genug zu ­schreiben, was wirklich ist?», soll «Weltwoche»-Chef und SVP-Nationalrat Roger Köppel (53) zu seinem ersten Biografen, dem Schweizer Journalisten Daniel Ryser (39), ­gesagt haben.

Der menschliche Verstand erschafft Leben, wo keines ist

Was in dieser verbissenen Diskus­sion über Fakten allerdings unter die Räder kommt, ist das Fiktive – es wird schlicht als Fake diskre­ditiert und hat keinen Platz mehr. ­Dabei ist Fiktion, vom Lateinischen «fingere» für «gestalten», «formen» oder «sich ausdenken» abgeleitet, das fantastische Ergebnis kreativer Vorstellungskraft.

Diese Kraft ist nicht bloss kulturell angelernt, sondern in der Natur des Menschen angelegt. Das beweisen 1944 die beiden Psychologen Fritz Heider und Marianne Simmel in einem Experiment der University of Illinois in Chicago: Sie präsentieren ihren Probanden einen gut ­einminütigen, abstrakten Trickfilm mit drei sich bewegenden Körpern – ein kleiner Kreis sowie ein kleines und grosses Dreieck.

Die Versuchspersonen müssen daraufhin erklären, was zu sehen war. Und prompt erzählen sie eine Geschichte, als hätten sie handelnde Menschen gesehen: Aus den ­beiden Dreiecken werden Männer im Streit um eine Frau (der Kreis) – das klassische Eifersuchtsdrama. Der menschliche Verstand erschafft hier Leben, wo keines ist.

«Nirgends gibt oder gab es jemals ein Volk ohne Erzählung, sie ist ­einfach so da, wie das Leben», so der französische Philosoph Roland ­Barthes (1915–1980). Eine Erkenntnis, die den US-Philosophen Walter ­­Fisher (1931–2018) dazu bewog, statt vom Homo sapiens vom Homo narrans zu reden – abgeleitet von Narration für «Erzählung».

Die Lust, Erdachtes zu erzählen, ist von alters her die Triebfeder der Menschen. Ob in der Urgeschichte vor dem steinzeitlichen Höhlen­feuer oder in der individuellen ­Historie jedes Einzelnen vor dem Einschlafen im Bett – wenn einem jemand etwas erzählt, hört man ­gebannt zu.

«Es war einmal …» Mit einem ­solchen Hör- und Leseerlebnis beginnt in unseren Kreisen fast jedes Leben. Die Grimm-Märchen von «Aschenputtel» bis zu «Der Wolf und die sieben Geisslein» bevölkern jeden Kinderkopf und lassen alles beseelter und bunter erscheinen, als es tatsächlich ist. Je kleiner wir sind, umso grösser und reicher ist die Welt um uns herum.

«Mit fünf Jahren habe ich lesen gelernt», beginnt der peruanische Schriftsteller Mario Vargas Llosa (82) 2010 seine Nobelpreisrede unter dem Titel «Ein Lob auf das ­Lesen und die Fiktion». «Ich erin­nere mich noch deutlich, wie diese Magie, die Worte der Bücher in ­Bilder zu übersetzen, mein Leben bereichert hat. Das Lesen verwandelte Traum in Leben und Leben in Traum.»

Fiktionale Literatur prägte das westliche Verständnis von Sex

Wir dächten uns Geschichten aus, so Vargas Llosa weiter, um auf irgend­eine Weise die vielen Leben zu leben, die wir gern leben würden, während wir nur über eins verfügten. Und der Autor von Romanen wie «Die Stadt und die Hunde» (1963) oder «Das Fest des Ziegenbocks» (2000) schliesst daraus: «Ohne Fiktion wären wir uns nicht so sehr der Bedeutung der Freiheit für ein lebenswertes Leben bewusst.»

Von «Alice in Wonderland» bis ­Zorro, vom ersten Romanhelden Don Quijote (1615) bis zu Katniss Everdeen aus der Filmserie «Die Tribute von Panem» (2012–2015) – unsere Köpfe sind bevölkert mit ­fiktiven Figuren von Büchern, Bühnen und Bildern. Selbst reale Bekanntschaften aus Familie, Nachbarschaft und Arbeitswelt erinnern uns zuweilen an Kunstfiguren.

Welchen Einfluss Anna Karenina, Madame Bovary und Co. auf unser reales Leben haben, wies der deutsche Soziologe Niklas Luhmann (1927–1998) nach: Gemäss seinen Forschungen prägte die fiktionale Literatur der letzten Jahrhunderte massiv das westliche Verständnis von Sexualität, Liebe und Partnerschaft.

Fiktion wird Fakt: Im 19. Jahrhundert fassen die ­Leser die deutlich deklarierten «Reiseromane» von Karl May als Tatsachenberichte auf. Der Vielschreiber nutzt diesen Irrtum und bezeichnet seine Romane fortan als «Reiseerlebnisse».

Und als 1938 das Hörspiel «Der Krieg der Welten» in den USA zur Ausstrahlung kommt, fliehen Zuhörer in Panik auf die Strasse, weil sie meinen, der Angriff der Mars-Menschen sei real. Richtig belustigend ist William Boyds (66) fiktive Künstlerbiografie «Nat Tate», mit der er 1998 die Kunstwelt narrt – samt inszenierter Vernissage.

Die Einflüsse des Fiktionalen auf das Faktische können tödlich sein. Das zeigt sich erstmals 1774, als ­Johann Wolfgang Goethe seinen Briefroman «Die Leiden des jungen Werther» veröffentlicht. In der ­Folge erschiessen sich Männer wie der lebens­müde Titelheld. Man spricht fortan vom «Werther-Effekt».

Der Umgang mit Fiktion lehrt uns einerseits, fantasievoller mit der ­Gegenwart umzugehen, und ander­seits, immer zweifelnd an Sachen ranzugehen.

Politiker, die Bücher verbannen, sollten einem suspekt sein

«Merkt euch: Was ihr seht und lest, passiert nicht wirklich», sagt Donald Trump Ende Juli vor Kriegsveteranen in Kansas City. Wenn er solche Sätze von sich gibt, könnte man ihn glattweg für eine geübte Person im Umgang mit Fiktion ­halten. Doch ihm geht es nur um seinen Krieg gegen die Medien, um Rechthaberei. Und so sagt er, sich natürlich im Besitz der absoluten Wahrheit wähnend: «Glaubt nicht den Mist, den ihr von diesen Leuten seht.»

Donald Trump liest wie sein Vorvorgänger George W. Bush keine Romane, Hitler liess Bücher verbrennen und Pol Pot belesene ­Kambodschaner auf den Killing Fields ermorden: Staatsführer, die fiktionale Bücher aus ihrem Leben verbannen, sollten einem zumindest suspekt sein, denn sie sehen die Welt nicht bunt, sondern bloss schwarz-weiss. Und das endet meist schwarz.

«Zahllose Menschen fallen täglich an vielen Orten der Welt denen zum Opfer, die sich im Besitz ab­soluter Wahrheiten glauben», sagt Vargas Llosa in seiner Nobelpreisrede. «Neue Formen der Barbarei wuchern, vom Fanatismus geschürt, und angesichts der vehementen Zunahme von Massenvernichtungswaffen ist nicht auszuschliessen, dass irgendeine Gruppe wahnwitziger Erleuchteter eines Tages eine nukleare Katastrophe auslöst.»

Da ist nur zu hoffen, dass die Menschen wieder vermehrt Ro­mane lesen und ins Kino oder ­Theater gehen.

Philip Roth über Trump

Autor Philip Roth: «Trump ist entwürdigendste Katastrophe der USA». Im Roman «The Plot Against America» (Verschwörung gegen Amerika) hatte Roth 2004 die Fiktion einer faschistischen Machtübernahme in den USAgezeichnet.

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Der US-Autor Philip Roth wird in Frankreich gewürdigt (Archiv)
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Keystone

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