Kündigungs-Initiative
Plötzlich scheint ein Ja möglich

Die SVP erhofft sich durch die aktuelle Situation bessere Chancen für ihre Begrenzungsinitiative. Die anderen Parteien schwanken zwischen Vorsicht und Geringschätzung.
Publiziert: 17.05.2020 um 00:08 Uhr
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Aktualisiert: 26.12.2020 um 16:54 Uhr
Camilla Alabor und Simon Marti

Alles wäre bereit gewesen. Bereit für die Mutter aller Abstimmungen. Mit ihrer Begrenzungs-Initiative will die SVP der Personenfreizügigkeit mit der EU den Garaus machen. Für die Partei, die sich noch immer nicht ­ so recht von ihrer Wahlniederlage vom vergangenen Herbst erholt hat, wäre das die Gelegenheit zur Revanche.

Heute Sonntag, pünktlich zur Mittagsstunde, hätten die Stimmbürger entschieden. Aber: Corona macht auch vor der direkten Demokratie nicht halt. Nun findet die Abstimmung Ende September statt – aus Sicht der SVP ist das wohl gar nicht mal so schlecht.

Neue Vorzeichen

Als die Kampagne ­gegen die Personenfreizügigkeit im Februar angelaufen war, standen die Vorzeichen gänzlich anders. Die Wirtschaft brummte, die Flüchtlingszahlen lagen tief, die Zuwanderung war in der öffentlichen Debatte kaum ein Thema. Erste Umfragen ergaben denn auch eine Zustimmung von gerade mal 35 Prozent.

Heute Sonntag wäre die europapolitische Entscheidung gefallen.
Foto: KEYSTONE/MARTIN RUETSCHI
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Dann zwang der Lockdown die Parteien, ihre Kampagnen zu unterbrechen. Zumindest die SVP tauchte relativ rasch wieder aus der politischen Versenkung auf: Statt für ihre Initiative zu werben, machte die Partei nun Front gegen den Lockdown.

Abstimmungskampf wird fortgesetzt

Und als der Bundesrat vor zwei Wochen einen neuen Termin für den ­Urnengang bekannt gab, nahm sie auch den Abstimmungskampf wieder auf – im Wissen, dass derzeit jedes politische Dossier unter neuen ­Vorzeichen ausgefochten wird. Und in der Hoffnung, dass die Erfah­rungen der Lockdown-Wochen die Europa­skepsis im Land angefacht haben.

«Unsere Kampagne hätte ohnehin beleuchtet, dass die Zuwanderung unsere Sozialwerke stark belastet», sagt SVP-Nationalrat Marcel Dettling (39), Co-Leiter der Ja-Kampagne. Die wirtschaftliche Krise werde nun zeigen, dass Ausländer, die ihre Stelle verlieren, eben nicht in ihre Heimatländer zurückkehren, «wie uns die EU-Sympathisanten immer versprochen haben», so der Schwyzer. «Sie bleiben im Land und belasten unsere Sozialwerke massiv.»

Wenig europäische Solidarität

Corona habe bewiesen, wie wenig Verträge in Europa gälten, «wenn es hart auf hart kommt», sagt Dettling. Von europäischer Solidarität sei in letzter Zeit wenig zu spüren gewesen: «Insofern wird unsere Argumentation gestärkt. Den Leuten geht ein Licht auf – und das nützt uns.»

Die Gegner der Vorlage indes, also alle grossen ­Parteien ausser der SVP, schwanken noch zwischen Vorsicht und Geringschätzung: Die SVP sei kaum je in einer schlechteren Verfassung gewesen, sagt SP-Präsident Christian Levrat (49), dessen Genossen freilich auch schon bessere Tage gesehen haben.

«Dass die SVP nun schon Stimmung macht, ist Ausdruck ihrer Verzweiflung», fährt der Freiburger Ständerat fort. Im Herbst gebe es keine Mehrheit für ­Experimente, sieht er ­voraus. «Schon gar nicht, wenn sich die Wirtschaft in einer derart schwierigen Situation befindet.»

Levrat erwartet im ewigen Hin und Her über das Rahmenabkommen gar ­einen durch Corona bedingten Neustart: «Beide Seiten wissen, wie wichtig sie füreinander sind. Daher glaube ich auch, dass Brüssel künftig bereit sein wird, der Schweiz in gewissen ­offenen Punkten entgegenzukommen.»

«Krise als Chance»

In diesem Punkt weiss sich der SP-Chef sogar für einmal mit dem freisinnigen Aussenminister Ignazio Cassis (59) einig, der am Freitag im Westschweizer Fernsehen die Krise als Chance für die Beziehungen zwischen Bern und Brüssel interpretierte. Ein Tenor, den auch die GLP-Fraktionschefin Tiana Angelina Moser (41, ZH) teilt: «Die Corona-Krise zeigt deutlich: Die Bewältigung der Krise gelingt nicht durch Isolation, sondern durch internationale Zusammenarbeit.»

CVP-Präsident Gerhard Pfister (57) ist deutlich zurückhaltender. Dass vom proeuropäischen Lager bisher wenig zu hören war, wertet er zwar nicht als Nachteil: «Ich glaube, die Bevölkerung hatte anderes im Kopf.» Und doch warnt Pfister davor, die Abstimmung auf die leichte Schulter zu nehmen: «Eine 08/15-Kampagne wird nicht ausreichen, um die Initiative zu versenken.»

Ausgang der Abstimmung ist offen

Das sei auch der Grund ­dafür, dass das Gegenkomitee in den kommenden Wochen wieder stärker in Erscheinung treten werde. «Wir müssen die Zeit vor den Sommerferien nutzen, um erste Pflöcke ein­zuschlagen», stellt Pfister kategorisch fest. Auch die zivilgesellschaftliche Bewegung Operation Libero wird ihre Kampagne im Juni lancieren.

Trotz seiner Bedenken ist der CVP-Chef überzeugt: Der Ausgang der Abstimmung ist weiterhin offen. «Mit der steigenden Arbeitslosigkeit gewinnt der wirtschaftliche Aspekt an Gewicht.» Einen grossen Vorteil für die Gegner der SVP sieht der Zuger auch in der Landesregierung, die sich stark gegen die Initiative engagiere: «Der Bundesrat geniesst bei der Bevölkerung derzeit eine hohe Glaubwürdigkeit.»

Alle Abstimmungen auf einen Blick

Die Schweiz stimmt wieder ab: Erklärungen zu allen Initiativen, aktuelle News und prominente Stimmen zum Thema finden Sie hier.

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