Editorial
«Warum wir hinschauen müssen»

Publiziert: 18.12.2016 um 00:00 Uhr
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Aktualisiert: 11.09.2018 um 13:57 Uhr
Katia Murmann

Liebe Leserin, lieber Leser

Letzte Woche in Syrien: Am Montag sterben bei einem Giftgas-Angriff in der Provinz Hama über 100 Menschen, wie die Hilfsorganisa­tion Union of Medical Care and Relief Organizations berichtet.

In Aleppo tobt der Endkampf zwischen Rebellen und syrischen Regierungstruppen. Zehntausende Zivilisten sind im Osten der Stadt eingeschlossen, fürchten um ihr Leben. Am Freitag sprengt sich auf einer Polizeiwache in der Hauptstadt Damaskus ein Mädchen in die Luft. Augenzeugen berichten, es sei etwa neun Jahre alt gewesen. Eine ganz normale Woche in Syrien. So normal, dass keiner mehr hinsieht, geschweige denn aufschreit, trotz all des Wahnsinns, der Gräueltaten, der Unmenschlichkeit.

Nach fast sechs Jahren Bürgerkrieg, 400000 Toten, elf Millionen Vertriebenen und unzähligen Friedensappellen der Weltgemeinschaft hält sich Präsident Bashar al-Assad (51) noch immer an der Macht. Sein Einfluss wächst, dank der Unterstützung von Wladimir Putin (64) aus Russland und Hassan Rohani (68) aus dem Iran. Der Westen hat das syrische Schlachtfeld längst verlassen.

Zwei der bisher wichtigsten Akteure der Welt traten am Freitag vor die Presse. Der abtretende Uno-Generalsekretär Ban Ki Moon geisselte das Morden – ohne die traurige Rolle seiner eigenen Organisation zu erwähnen. Syrien ist ein weiteres Beispiel dafür, dass die Uno in ihrer heutigen Form als weltpolitische Ordnungsmacht versagt. Sie kann nicht einmal mehr garantieren, dass minimale humanitäre Standards, die Genfer Konventionen und das Völkerrecht eingehalten werden.

Auch US-Präsident Barack Obama erklärte sich am Freitag. Warum die USA sich in Syrien nicht ­stärker eingemischt haben. Er prangerte die Missachtung des Völkerrechts an, forderte einen Waffenstillstand. Die Worte verhallten ebenso wie die Berichte über das Grauen in Syrien selbst.

Warum bewegt uns das, was in Aleppo passiert, nicht mehr? Vielleicht, weil es schon zu lange andauert. Vielleicht, weil wir das Gefühl haben, wir könnten ohnehin nichts ändern. Vielleicht, weil in Syrien die Opfer vor allem Muslime sind, die bei uns, zu Unrecht, gerade unter Generalverdacht stehen.

Vielleicht aber auch, weil wir längst den Überblick verloren haben. Ist Assad der Böse? Oder der IS, der ihn bekämpft? Und wenn es nur Böse gibt: Wo sind dann die Guten, mit denen wir uns solidarisieren können?

Ganz anders war es 1991 und 2003, als die USA im Irak einmarschierten. Damals gab es Protestmärsche, Mahnwachen, Blockaden vor US-Einrichtungen in aller Welt. Die längst totgesagte Friedensbewegung war auferstanden. Inzwischen haben wir sie endgültig begraben.

Vor unseren Augen zerfallen Staaten. Im Irak, in Afghanistan, in Libyen herrscht Anarchie. Auch für das Syrien danach, wenn der Krieg einmal zu Ende sein sollte, gibt es keinen Plan der Weltgemeinschaft. Natürlich haben unsere Politiker und auch wir viele Ausreden. Doch wir müssen uns bewusst machen: Unsere Gleichgültigkeit ist gefährlich.

Wir lassen zu, dass in Syrien fundamentale Werte mit Füssen getreten werden. Wenn wir schweigen, zeigen wir: Wir halten zentrale humanitäre Werte nicht mehr hoch, nehmen den Frieden und Wohlstand, in dem wir leben, als gottgegeben. Und blenden aus, dass auch bei uns in der Schweiz immer mehr Leute die Demokratie und ihre Institutionen in Frage stellen, sie gar verhöhnen,  wir bemerken nicht, dass wir damit das Fundament auch unseres Staates unterminieren.

Zu lange haben wir zugeschaut. Wir müssen unsere Gleichgültigkeit abwerfen und unsere Werte verteidigen. Unsere Vorfahren haben Demokratie, Freiheit und Wohlstand hart erkämpft. Jeder einzelne von uns muss sich fragen, was ihm wichtig ist, in welcher Welt er leben möchte. Dann müssen wir uns für die Dinge, die uns wichtig sind, engagieren. Mit Worten und Taten, etwa, indem wir die Flüchtlinge aus Syrien, die bei uns leben, willkommen heissen. Wir können ihnen unsere Werte vorleben und ihnen mit Menschlichkeit statt Feindseligkeit begegnen. Das ist die Botschaft der Aufklärung. Und auch die von Weihnachten.

Einen schönen Sonntag wünscht Ihnen
Katia Murmann

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