Brian (27) kommt frei
Das bedeutet Überhaft

Wende im Fall Carlos: Brian wird in den nächsten Tagen aus der Sicherheitshaft entlassen. Dies hat das Zürcher Obergericht angeordnet.
Publiziert: 01.11.2022 um 16:10 Uhr
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Aktualisiert: 02.11.2022 um 07:24 Uhr

Brian Henry Keller (27), bekannt geworden unter dem Pseudonym Carlos, befindet sich seit mehr als fünf Jahren ununterbrochen in Untersuchungs- oder Sicherheitshaft, wie das Zürcher Obergericht mitteilte. Jetzt aber gibts dafür keine Grundlage mehr: Er müsse aus der Sicherheitshaft entlassen werden, teilte das Obergericht mit.

Dies soll bereits in den nächsten Tagen geschehen und ohne, dass Ersatzmassnahmen angeordnet wurden – also ohne elektronische Überwachung, Meldepflicht oder Rayonverbote.

Der Grund: Brian, der seit 2017 in Untersuchungs- respektive Sicherheitshaft sitzt, droht die sogenannte Überhaft. Der auf Strafrecht spezialisierte Anwalt David Gibor erklärt Blick: «Eine Überhaft liegt unter anderem dann vor, wenn eine beschuldigte Person länger in Untersuchungs- und Sicherheitshaft sitzt, als die zu erwartende Freiheitsstrafe dauert.»

Der Fall Brian löste in der Schweiz grosse Diskussionen aus. Nach jahrelanger Haft kommt er jetzt frei.
Foto: SRF

Sicherheitshaft bedeutete, dass Brian 23 Stunden pro Tag in einer Einzelzelle sass. Ausserhalb der Zelle war er stets mit Fesseln an Händen und Füssen fixiert. Besuch durfte er nur einmal pro Woche empfangen – hinter einer Panzerglasscheibe.

«Grundsätzlich unschuldig»

Eine Untersuchungs- und Sicherheitshaft sollte nicht annähernd in den zeitlichen Bereich einer Freiheitsstrafe ragen, die im Falle einer Verurteilung zu erwarten sei, sagt Gibor. Es dürfe nie vergessen werden, dass eine in Untersuchungs- und Sicherheitshaft sitzende Person grundsätzlich unschuldig sei, weil noch keine rechtskräftige Verurteilung vorliege.

«Die Untersuchungshaft ist deshalb möglichst kurzzuhalten und darf nur als letzte Zwangsmassnahme gewählt werden», sagt der Strafverteidiger. Der Verfassungsgrundsatz der Verhältnismässigkeit verlange von den Behörden, dass sie umso zurückhaltender seien mit solch schweren Eingriffen in die Freiheit eines Menschen, wenn sich die Dauer der Haft der zu erwartenden Freiheitsstrafe nähere. «Falls der Freiheitsentzug die ausgefällte Sanktion übersteigt, ist sie zu Unrecht erfolgt. In diesem Fall hat das Strafgericht diese rechtswidrige Überhaft abzugelten und muss den Beschuldigten finanziell angemessen entschädigen», sagt Gibor.

Dem Beschuldigten wird laut Mitteilung vorgeworfen, von Januar 2017 bis Oktober 2018 im Strafvollzug verschiedene Delikte begangen zu haben. Die Strafe, die er dafür voraussichtlich bekommen wird, könnte durch die jahrelange Untersuchungs- und Sicherheitshaft aber bereits verbüsst sein.

Wegen schwerer Körperverletzung verurteilt

Das Bezirksgericht Dielsdorf verurteilte ihn wegen versuchter schwerer Körperverletzung sowie weiterer Delikte zu einer Freiheitsstrafe von vier Jahren und neun Monaten. Das Obergericht Zürich erhöhte die Strafe auf sechs Jahre und vier Monate.

Das Bundesgericht hob diesen Entscheid mit Urteil vom 12. November 2021 auf und wies das Verfahren ans Obergericht zurück. Dieses hat noch nicht erneut entschieden.

Während der Untersuchungs- und Sicherheitshaft reichten Brians Anwälte verschiedene Beschwerden ein. Das Bundesgericht lehnte zuletzt im Mai 2022 eine Beschwerde gegen die Verlängerung der Sicherheitshaft ab. Gleichzeitig wies das oberste Gericht darauf hin, dass die Gefahr der «Überhaft» bestehe. Das heisst, die Sicherheitshaft könnte länger dauern als die zu erwartende Freiheitsstrafe aus dem noch offenen Verfahren.

Berufungsverfahren wird noch eine Weile dauern

Das Obergericht hielt eine Fortführung der Sicherheitshaft für nicht mehr verhältnismässig. Die vom Bezirksgericht Dielsdorf verhängte Freiheitsstrafe von 4 Jahren und 9 Monaten hätte Brian bereits vor vier Monaten vollständig abgesessen. Das Berufungsverfahren vor Obergericht wird laut Mitteilung noch einige Zeit in Anspruch nehmen, da sehr umfangreiche Beweisanträge gestellt worden seien.

Der Entscheid des Obergerichts über die bevorstehende Entlassung von Brian aus der Sicherheitshaft kann noch an das Bundesgericht weitergezogen werden. Die Zürcher Staatsanwaltschaft nimmt den Entscheid zur Kenntnis und prüft mögliche weitere Schritte, wie sie auf Anfrage der Nachrichtenagentur Keystone-SDA mitteilte.

Kritik an Haftbedingungen

Die lange Sicherheitshaft und die Haftbedingungen beschäftigten in den vergangenen Jahren nicht nur verschiedene Gerichte, sondern auch die Nationale Kommission zur Verhütung von Folter sowie den UNO-Sonderberichterstatter für Folter, den Schweizer Juristen Nils Melzer. Beide kritisierten die Bedingungen von Brians Haft und forderten Verbesserungen.

Im Januar dieses Jahres kündigte die zuständige Zürcher Justizdirektion deshalb die Verlegung von Brian in ein normales Untersuchungsgefängnis an. Zuvor sass er längere Zeit in einer Einzelzelle der Justizvollzugsanstalt Pöschwies. (SDA/oco)

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