Sein Handy klingelte 40 Mal laut
Sechs Stunden tot im Tram – bis eine Pflegefachfrau hinsah

Pietrantonio D.* (†64) hatte einen Herzinfarkt im Tram 2 in der Stadt Zürich. Er starb in seinem Sitz – aber niemand bemerkte es. Sechs Stunden lang. Bis eine Frau ins Tram stieg, die stutzig wurde.
Publiziert: 05.07.2021 um 09:33 Uhr
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Aktualisiert: 05.07.2021 um 16:23 Uhr

Es ist genau zwei Wochen her, als am Montagmorgen um 6.21 Uhr der Schneider Pietrantonio D.* (†64) bei der Haltestelle Micafil in Zürich-Altstetten ins Tram 2 stieg. Beim Paradeplatz hätte er aussteigen sollen, doch 11 Minuten, nachdem er sich auf einen Einersitz gesetzt hatte, erlitt er einen Herzinfarkt. Er starb in seinem Sitz – und niemand bemerkte es.

Wie war das möglich? Die «NZZ am Sonntag» hat seinen Fall minutiös nachgezeichnet und mit seinem Sohn gesprochen. Der Schneider war auf dem Weg zur Arbeit, er entwarf Damenmode im Modehaus Gross Couture, in den 41 Jahren im Geschäft hatte er nicht einen Tag krankheitshalber gefehlt.

Um 6.32 Uhr fiel sein Kopf nach vorne

An jenem Morgen war er elegant angezogen, trug ein hellblau-weiss gestreiftes Hemd, ein hellblaues Jackett und eine grauschwarze Hose, am rechten Arm eine Uhr. Er trug eine Corona-Maske aus Papier, sass in der Mitte des Fahrzeugs, rechts auf einem der wenigen Einersitze.

Der Tote war in einem Tram der Linie 2 unterwegs.
Foto: DUKAS
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Videokameras zeichneten den Morgen auf, an dem P. starb. Als das Tram bei der Haltestelle Lochergut war, um 6.32 Uhr, knickte er plötzlich ein, als fiele er in einen Sekundenschlaf. Er hob nochmal den Kopf, schaute sich um – und sein Kopf fiel wieder nach vorne. So blieb er, bis er entdeckt wurde. Dass er nicht gelitten habe beim sofortigen Herzstillstand, sei «tröstlich», sagt der Sohn der «NZZ am Sonntag».

Leichnam war 6 Stunden und 45 Minuten unterwegs

In der linken Jackettasche von Pietrantonio D. steckte ein Iphone 12, es sollte rund 40 Mal klingeln, in diesen 6 Stunden und 45 Minuten, in denen niemand bemerkte, dass er tot in seinem Sitz sass. Denn nachdem er nicht zur Arbeit erschien, versuchte ihn die Familie zu erreichen. Vier ganze Runden des Trams mit der Nummer 2 absolvierte er, passierte achtmal das Bellevue, achtmal die Quaibrücke. Laut der Zeitung stiegen rund 1200 Menschen in das Tram ein und aus. Ob einige von ihnen das Klingeln hörten, ist nicht klar.

Es brauchte eine Pflegefachfrau, die im Seefeld einstieg und die stutzig wurde, als sie den eingesunken dasitzenden Mann sah. Kurz nach 13.15 Uhr sprach sie ihn an, fühlte seinen Puls, als er nicht reagierte – merkte aber, dass der Körper von Pietrantonio schon erkaltet war. Sie informierte den Chauffeur. Sanitäter konnten aber nur noch den Tod feststellen.

Dass der Leichnam so lange unentdeckt blieb, schockte die Familie und viele Leser. Mit Maske, scheinbar schlafend, in einem Einersitz: Wohl mitunter Gründe, dass niemandem der Tod des Mannes auffiel. (neo)

*Name bekannt

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