«Mir wurde der Boden unter den Füssen weggezogen»
3:16
In anonymisiertem Interview:Beatrice T. schildert ihr schlimmes Therapie-Erlebnis

Missbrauchte Beatrice T. erlebt Albtraum in Sexualtherapie
«Ich diente nur als Forschungsobjekt»

Beatrice T. aus dem Kanton Zürich besucht eine Sexualtherapie, da sie wegen eines sexuellen Missbrauchs in der Kindheit panische Angst vor Küssen und Nähe von Männern hat. Doch die Ersatzpartner-Therapie entpuppt sich als Albtraum für die Mittvierzigerin.
Publiziert: 12.06.2023 um 00:45 Uhr
|
Aktualisiert: 12.06.2023 um 13:36 Uhr
Blick_Portrait_2537.JPG
Nicolas LuratiReporter News

Lucianna Braendle (60) aus Winterthur ZH bietet eine aussergewöhnliche Therapie an: berühren, küssen und Sex mit einem Ersatzpartner oder einer Ersatzpartnerin. Das Erlebnis nennt sich Surrogat-Partner-Therapie. Die Sexual- und Paartherapeutin ist keine Unbekannte: Auch das SRF berichtete über Braendle und ihr Angebot.

Auf ihrer Internetseite schreibt sie, die Ersatzpartner und Ersatzpartnerinnen, also Surrogat-Partner und Surrogat-Partnerinnen, haben bei ihr eine Ausbildung abgeschlossen. Es steht auch, an wen sich das Therapie-Angebot richtet: unter anderem an Personen, die «sexuelle, körperliche oder emotionale Übergriffe erlebt» haben.

Menschen wie Beatrice T.*, die anonym bleiben will. Die Zürcherin ist im Kindergartenalter, als ein Erwachsener mit geistiger Behinderung sie sexuell missbraucht. Opfer und Täter kennen sich. T. trägt ein Trauma davon – es verfolgt sie seit Jahrzehnten: Sie meidet Nähe zu Männern und verabscheut Küsse.

Beatrice T. aus dem Kanton Zürich verabscheut wegen eines sexuellen Missbrauchs in der Kindheit Küsse und meidet Nähe zu Männern.
Foto: Nicolas Lurati
1/11

«Komplett unprofessionell»

Letzten Sommer nimmt sie allen Mut zusammen, das Thema anzupacken. Das Angebot von Lucianna Braendle spricht T. an. «Ich wollte in einem geschützten Rahmen üben, wie man einen Mann berührt, ihn küsst und allenfalls gar Sex hat», sagt die Mittvierzigerin zu Blick.

Anfangs 2023 ging es mit der Therapie los. Was sie aber erlebte, bezeichnet T. als «komplett unprofessionell». Sie berichtet: «Lucianna vergass, die erste Sitzung anzuberaumen. In dieser Sitzung hätten wir uns kennengelernt und ich ihr meine Ausgangslage dargelegt. Dazu hätte sie eingeschätzt, ob ich für eine Surrogat-Partner-Therapie infrage käme.» Damit nicht genug: «Lucianna legte mir ein Dokument vor, auf dem statt meinem Namen jener einer anderen Klientin draufstand», sagt T. «Sie erklärte mir, dass das passiert sei, weil sie mit den Gedanken noch auf der Rigi gewesen sei.»

Weiter: «In der tatsächlichen ersten physischen Sitzung hatte ich nur eine Viertelstunde, um Lucianna meine Geschichte zu erzählen», so T. Dann sei Surrogat-Partner Rolf E.* dazugestossen, mit dem T. den körperlichen Teil der Therapie durchlaufen würde. «Zunächst war mit ihm alles gut», sagt sie. «Er war feinfühlig. Wir berührten gegenseitig unsere Hände.»

Dieses positive Gefühl schwindet für T. «Erst in der vierten Sitzung sagte mir Rolf, er sei noch in der Ausbildung und müsse eine Abschlussarbeit schreiben. Für diese brauche er noch eine zweite Klientin, über die er darin berichten könne.» T. ist entsetzt: «Er hätte mein Trauma in seiner Arbeit ausgeschlachtet.»

Beatrice T. bricht die Therapie ab

Sie fühlt sich «verraten», wie sie sagt. Sowohl von Braendle als auch von ihrem Surrogat-Partner. «Ich hörte dies an jenem Tag zum ersten Mal. Ich hätte dem niemals zugestimmt.» Nach Jahrzehnten des Schweigens habe sie sich getraut, ihre Ängste anzupacken und ihr Intimstes preiszugeben. «Doch dann fragte ich Rolf, ob ich etwa sein Forschungsobjekt für seine Arbeit sei – er bejahte.» T. bricht die Surrogat-Partner-Therapie ab.

Von Blick mit den Vorwürfen konfrontiert, schiebt Lucianna Braendle die Verantwortung kurzerhand auf T. ab: «Dass Beatrice das als ‹Verrat› bezeichnet und sich als ‹Forschungsobjekt› sieht, hat ganz viel mit ihrer persönlichen Geschichte zu tun». Konkret: «Es gibt einen sehr verletzten Teil in ihr, der in ihrem Alltag nicht sichtbar ist. In den wenigen Begegnungen, die ich und der Surrogat-Partner mit ihr hatten, wurde dieser stark angetriggert. Leider war es für Beatrice nicht möglich, diese Trigger mit uns anzuschauen.»

Braendle entschuldigt sich

Dass sie den Datenschutz verletzt hat, nimmt Braendle auf ihre Kappe. Es tue ihr leid, dass sie T. ein Dokument geschickt habe, auf dem der Name einer anderen Klientin draufgestanden sei. «Ich habe das System jetzt so geändert, dass das nicht mehr passieren kann. Das mit der Rigi war ein Verlegenheitssatz.»

Ebenso bestätigt Braendle, dass sie die Kennenlernsitzung nicht anberaumt habe. «Ich habe die Sitzung aber nicht vergessen. Vielmehr kannte ich Beatrices Geschichte schon, da wir uns im Herbst 2022 bei einem Gruppenanlass trafen, bei dem sie mir einen grossen Teil ihrer Geschichte schon erzählt hatte.» Sie habe darum geglaubt, einschätzen zu können, dass T. für eine Surrogat-Partner-Therapie infrage käme, so Braendle.

Über Rolf E. sagt die Sexualtherapeutin, dass dieser die Ausbildung zum Surrogat-Partner abgeschlossen habe. Anschliessend komme es aber zur «Zertifizierungsphase». In dieser befinde sich E. jetzt. «Er begleitet zwei Klientinnen und schreibt ein Protokoll darüber. Nach der Begleitung der zwei Klientinnen schreiben die Surrogat-Partner eine Zertifizierungsarbeit, in der sie die Begleitungen aufnehmen. Eine dieser Klientinnen wäre Beatrice gewesen.»

Es sei aber nicht massgeblich, die Klientin vorab zu informieren, dass ihr Fall in der Zertifizierungsarbeit aufgenommen werde. «Denn es wird alles anonymisiert und die Arbeit wird nicht veröffentlicht.» Nur sie selbst sehe sie, so Braendle. «Bisher haben wir die Klientinnen und Klienten nie über die Aufnahme in die Arbeit informiert. Es gab auch nie Probleme. Nach dem Fall Beatrice werde ich den Klientinnen und Klienten jedoch proaktiv im Vorhinein Bescheid geben.»

«Ich fühle mich weit zurückgeworfen»

Beatrice T. ist empört ab diesen Antworten: «Lucianna masst sich an, nach wenigen Sitzungen Aussagen über mein Wesen zu machen. Wir haben nie über meine Trigger gesprochen, obwohl ich den Begriff schon in der ersten schriftlichen Kontaktaufnahme im Sommer 2022 erwähnt hatte.»

T. ist auch schockiert, wie Braendle die nicht anberaumte Kennenlernsitzung begründet: «Wir sprachen bis zum Therapiestart im Februar nie lange und ungestört miteinander.»

Das Fazit von Beatrice T. fällt ernüchternd aus: «Ich fühle mich weit zurückgeworfen.» Und: «Lucianna und Rolf haben es geschafft, dass ich nun noch weniger vertrauen kann als vorher.»

* Namen geändert

Fehler gefunden? Jetzt melden
Was sagst du dazu?
Liebe Leserin, Lieber Leser
Der Kommentarbereich von Blick+-Artikeln ist unseren Nutzern mit Abo vorbehalten. Melde dich bitte an, falls du ein Abo hast. Noch kein Blick+-Abo? Finde unsere Angebote hier:
Hast du bereits ein Abo?