Quäl-Eltern verätzen Tochter – Vater vor Zürcher Gericht
«Ich habe sie nur einmal mit Kalkreiniger übergossen»

In Zürich stehen am Donnerstag Quäl-Eltern vor dem Bezirksgericht: Sie sollen ihre Tochter über Jahre hinweg terrorisiert und gequält haben. Acht Jahre lang hat niemand das Martyrium bemerkt. Warum griff niemand früher ein?
Publiziert: 01.09.2022 um 07:40 Uhr
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Aktualisiert: 01.09.2022 um 22:41 Uhr
Michael Sahli

Was diese Eltern aus dem Kanton Luzern der Tochter (heute 17) über Jahre hinweg angetan haben, grenzt an Folter: Leandra* wurde ab der ersten Klasse immer wieder verprügelt, eingesperrt, gefesselt, und gequält. Einmal soll ihr der Vater (42) einen Dusch-Schlauch in den Mund gesteckt und das Wasser aufgedreht haben. Bei anderer Gelegenheit soll ihr die Stiefmutter, die neue Ehefrau des leiblichen Vaters, ein Stück Zahn ausgeschlagen haben.

Acht Jahre lang bemerkten offenbar weder Schulen noch Behörden, was in der Familie vor sich ging. Am Donnerstag stehen der deutsche Vater und die Schweizer Ehefrau (41) vor dem Bezirksgericht Zürich – wegen schwerer Körperverletzung und Freiheitsberaubung.

«Ja, es gab Schläge»

Das angeklagte Ehepaar war nach mehreren Monaten U-Haft wieder auf freien Fuss gesetzt worden und erschien gemeinsam vor Gericht. Sie machten einen niedergeschlagenen Eindruck. «Ich war mit dem Kind überfordert», gab der Vater zu Protokoll. Und: «Ja, es gab Kurzschlussreaktionen und auch Schläge.» Er selbst sagt, beim Opfer habe es sich um ein schwieriges Kind gehandelt. Mit dem jüngsten Kind, das sich trotz allem in Obhut der beiden Angeklagten befindet, gebe es solche Probleme nicht: «Sie ist eben anders.»

Mutmassliche Quäl-Eltern standen am Donnerstag vor dem Zürcher Bezirksgericht.
Foto: Andrea Brunner
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Die mitangeklagte Ehefrau gab an, es gehe ihr sehr schlecht. «Ich habe schreckliche Dinge gemacht», gab sie unter Tränen zu. Gleichzeitig behauptete sie: Sie habe versucht, das Kind zu schützen.

Laut der 17-seitigen Anklageschrift bekam Leandra vom Vater immer wieder Schläge, seit sie in der ersten Klasse war. Immer wieder wurde sie im Zimmer eingesperrt. Ab zwölf Jahren gab es eine neue «Bestrafung», die auch von der Stiefmutter durchgeführt wurde: zuerst kalte, später schmerzvolle, heisse Duschen. Der Vater meinte dazu: «Ich wollte nur, dass sie sich endlich mal wäscht!» Die Stiefmutter bestätigte, an den Strafen beteiligt gewesen zu sein.

Mit ätzender Flüssigkeit übergossen

Was der Vater ebenfalls zugibt: Er übergoss die Tochter mit einer ätzenden Flüssigkeit, wohl Kalkreiniger. «Das passierte aber nur ein Mal. Ich war nicht mehr mich selbst», so der Erklärungsansatz. «Das lässt mich fassungslos zurück», entgegnete der Richter. Das Opfer erlitt Verletzungen an der Kopfhaut und im Gesicht. Ein weiteres Geständnis des Vaters: Er habe seine Tochter mit einem Schneidebrett so hart geschlagen, dass dieses zerbrach.

Andere Vorwürfe bestritten die Angeklagten. So habe er dem Opfer niemals den Duschschlauch in den Mund gesteckt, sondern nur mit der «Brause ins Gesicht gespritzt», so der Vater. Und der ausgeschlagene Zahn sei ein Unfall gewesen während eines Streits, meinte die Stiefmutter.

In der Anklageschrift sind Verletzungen des Mädchens aufgelistet: Ende 2018 Hämatome an Kinn und Jochbein. Januar 2019 Hämatome im Gesicht. Im August 2019 ging sie mit einem blauen Auge zur Schule. In der ersten Septemberwoche 2019 wieder ein blaues Auge. In der Woche darauf fielen Hämatome an den Armen auf. Aber erst im Oktober 2019 klickten bei den Eltern schliesslich die Handschellen.

In der Schule benahm sich das Mädchen auffällig, suchte zum Beispiel im Müll nach Essen. Die sadistische Behandlung hinterliess bei Leandra nicht nur körperliche Spuren, sondern auch seelische. Ihre Anwältin erzählte vor Gericht von Depressionen und einer posttraumatischen Belastungsstörung. Zudem will das bald volljährige Opfer den Namen ändern lassen. Leandra erschien selber nicht vor Gericht. Sie wurde nach der Verhaftung der Eltern fremdplatziert.

Warum schaute niemand früher hin?

Drängt sich die Frage auf: Warum bekam sie acht Jahre lang keine Hilfe? Wieso fielen die Verletzungen niemandem früher auf – und wieso blieben die Behörden all die Jahre untätig? Ein Grund dürfte sein: Die Familie zog immer wieder um, wohnte in fünf verschiedenen Kantonen.

Der Fall erinnert an eine Gerichtsverhandlung aus dem Jahr 2020. Auch da standen Quäl-Eltern nach Jahren in Zürich vor Gericht. Auch da fragten sich Prozessbeobachter: Warum griff niemand früher ein? Am Ende der Verhandlung reichte das Gericht selber Anzeige gegen die Kindesschutzbehörden ein, die auf Alarmsignale nicht richtig reagiert hatten. Das Verfahren ist noch pendent, wie die Staatsanwaltschaft auf Anfrage von Blick bekannt gibt.

Der heute 17-jährigen Leandra nützen solche Fragen nichts mehr. Sie muss lernen, mit den Taten zu leben. Die Anklage will den Vater sechs Jahre und die Stiefmutter fünf Jahre hinter Gitter sehen. Zudem soll der Deutsche des Landes verwiesen werden.

Der Verteidiger des Vaters forderte eine Freiheitsstrafe von lediglich eineinhalb Jahren. Diese soll bedingt ausgesprochen werden. Verurteilt werden solle er nur wegen einfacher Körperverletzung und der Vernachlässigung von Aufsichts- und Erziehungspflichten. Die Verteidigerin der Frau beantragte eine Freiheitsstrafe von 2 Jahren, die bedingt ausgesprochen werden soll. Die Stiefmutter soll ebenfalls der einfachen Körperverletzung und der Vernachlässigung von Aufsichts- und Erziehungspflichten schuldig gesprochen werden. Für die Angeklagten gilt die Unschuldsvermutung. Das Urteil folgt zu einem späteren Zeitpunkt.

*Name geändert

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