Zen-Meister und Jesuit Niklaus Brantschen im Interview
«Weihnachten schreckt auf!»

Liebe und Zölibat, Zen und Christentum – der Jesuit Niklaus Brantschen (83) passt in keine Schublade. Im Interview spricht er mit wachem Geist darüber, was Weihnachten eigentlich wirklich bedeutet, wie Liebe gelingen kann und warum er keine Angst vor dem Tod hat.
Publiziert: 24.12.2020 um 15:13 Uhr
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Aktualisiert: 15.01.2021 um 18:15 Uhr
Niklaus Brantschen (83) ist Zen-Meister und Jesuit. Er gehörte zu den Ersten, die gestresste Manager Zen-Meditation lehrten.
Foto: Blick / Daniel Kellenberger
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Rebecca Wyss

Wie werden Sie Weihnachten verbringen?
Niklaus Brantschen: In der Stille. Man singt nicht umsonst «Stille Nacht, heilige Nacht». Und ich werde Menschen anrufen, die sich freuen, mit mir zu sprechen.

Was bedeutet Weihnachten für Sie?
Für meine Studien habe ich viel Zeit in Japan verbracht. Vor Jahren fragte mich dort jemand: Feiern Christen auch Weihnachten? Ich war überrascht und sagte damals spontan: Ja, aber ganz anders, mit einer tieferen Bedeutung. Heute bin ich mir nicht mehr sicher.

Warum?
Mit dem Fest versuchen wir, die kürzesten Tage und die längsten Nächte im Jahr aufzuhellen. Das ist sinnvoll, aber was Weihnachten bedeutet, rückt in den Hintergrund.

Und das wäre?
Weihnachten schreckt auf! In der Bibel heisst es: Maria erschrak! Darüber, dass sie plötzlich Muttergottes werden soll. Josef erschrak! Seine Angst verfolgte ihn bis in seine Träume. Jesu Geburt war kein harmloses Ereignis. Es war ein Hineinbrechen der umfassenden Wirklichkeit, die wir Gott nennen, in diese Welt.

Der offene Geist

Niklaus Brantschen kam 1937 im Walliser Dorf Randa zur Welt. Dort wuchs er in den katholischen Glauben hinein, von dort stammt auch seine Liebe zu den Bergen. Mit 22 trat er dem Jesuitenorden bei. Als Jesuit zog es ihn immer wieder für Zen-Studien nach Japan. Heute ist er Zen-Meister. Seine Erkenntnisse zu Zen, zur Stille und zum Fasten gab er in zahlreichen Büchern weiter. Zuletzt ist von ihm «Zwischen den Welten daheim» erschienen. Mit seiner grossen Liebe und Ordensschwester Pia Gyger machte er zudem das Lassalle-Haus in Bad Schönbrunn ZG zu einem über die Landesgrenzen hinaus bekannten Zen-Zentrum. Niklaus Brantschen wohnt in Bad Schönbrunn.

Blick / Daniel Kellenberger

Niklaus Brantschen kam 1937 im Walliser Dorf Randa zur Welt. Dort wuchs er in den katholischen Glauben hinein, von dort stammt auch seine Liebe zu den Bergen. Mit 22 trat er dem Jesuitenorden bei. Als Jesuit zog es ihn immer wieder für Zen-Studien nach Japan. Heute ist er Zen-Meister. Seine Erkenntnisse zu Zen, zur Stille und zum Fasten gab er in zahlreichen Büchern weiter. Zuletzt ist von ihm «Zwischen den Welten daheim» erschienen. Mit seiner grossen Liebe und Ordensschwester Pia Gyger machte er zudem das Lassalle-Haus in Bad Schönbrunn ZG zu einem über die Landesgrenzen hinaus bekannten Zen-Zentrum. Niklaus Brantschen wohnt in Bad Schönbrunn.

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Ein Schrecken macht doch Angst!
Nicht nur. Schrecken öffnet. Man hält den Atem an, und dann ist man offen für die grosse Freude. Derzeit erschreckt uns Corona, weil das Vertraute und Gewohnte infrage gestellt wird. Das ist aber auch eine Chance.

Weihnachten gilt als Fest der Liebe. Warum hängt meist gerade dann in der Familie der Haussegen schief?
Viele wollen auf Teufel komm raus frohe Weihnachten feiern. Das muss ja danebengehen, weil man das ganze Jahr wenig zusammenkommt und sich kaum aufeinander einlässt.

Wie entspannt man die Situation?
Stubenhocker sind Trübsalblaser. Vielleicht geht man zusammen nach dem Znacht in die Mette – die Abendmesse in der Kirche. Oder man macht am Heiligen Abend einen Nachtspaziergang. Oder man bewegt sich am heiligen Tag in der Natur.

Was bedeutet eigentlich Liebe für Sie?
Liebe ist ein grosses Wort. Ich spreche in letzter Zeit lieber von Freundschaft.

Sprechen wir über Freundschaft.
Der griechische Philosoph Aristoteles sagte: Der Wunsch nach Freundschaft ist schnell geboren, aber Freundschaft selbst braucht Pflege und Zeit. Freunde unterstützen sich gegenseitig und gönnen einander neidlos den Erfolg. Und Freundschaft kennt keine Nebenabsichten.

Sie sind Jesuit und erfuhren Liebe durch eine Ordensfrau. Gemeinsam machten Sie dies im Buch «Es geht um Liebe» öffentlich.
Die Liebe mit Pia Gyger dauerte von 1973 bis 2014. Wir hatten eine Freundschaft, um die uns viele beneidet haben.

Pia Gyger verstarb nach langer Krankheit. Sie lebten beide zölibatär und blieben dem auch in Ihrer Beziehung treu. Wie lebten Sie Ihre Liebe?
Wir hatten einen intensiven Austausch auf der Herzensebene. Liebe ist mehr als Sexualität. Liebe ist Nähe und Begegnung. Sie fragte mich jeweils, wie es mir gehe, und ich sagte darauf, woran ich gerade arbeite, dass viel los sei. Pia brachte es dann in einem langen Prozess fertig, mich – ein Mann, ein Walliser und ein Macho – zum Reden über mich persönlich zu bringen.

Haben Sie den Eintritt in den Jesuitenorden je bereut?
Ich habe mir den Entscheid damals nicht leicht gemacht. Aber ich wusste, dass ich anders nicht glücklich werde. Ich habe es nie bereut. Und Pia schätzte mich dafür. Als ich 50 Jahre im Orden war, schenkte sie mir eine Karte, worauf stand: Ich sei in meinem ganzen Wesen Jesuit und Priester.

Heute gehen manche bewusst keine Beziehung mehr ein, und jede zweite Ehe wird geschieden. Warum ist die Liebesbeziehung so ein Knorz geworden?
Die Männer haben Angst vor Nähe. Angst davor, sich zu verlieren, ihre Rolle abzulegen, ihr Machotum. Und die Frauen warten nur darauf – so habe ich es erlebt.

Warum die Angst vor Nähe?
Weil man sich ganz zeigt. Auch Seiten, die man selbst unter den Teppich gekehrt hat. Das schmetterlinghafte Benehmen von Männern erkläre ich mir damit. Sie lassen sich gerne bewundern, und wenn es ums Eingemachte geht, sind sie weg. Und es ist schwierig geworden, den eigenen Egoismus aufzugeben. Das Bedürfnis nach Liebe ist aber nach wie vor gross.

Sie haben schon viele Paare getraut.
Ja. Meine erste Frage ist immer: Traut ihr euch wirklich? Wenn ja, dann müssen sie bei mir antraben und einen Antrag schreiben, begründen, warum sie sich trauen wollen und warum gerade sie oder ihn. Das Wichtigste ist die Überzeugung, dass diese Beziehung wichtig ist und man diese Verantwortung auf sich nimmt. Paare gehen auseinander, nicht weil die Liebe aufhört, sondern weil sie noch gar nicht angefangen hat. Sie leben nebeneinander her.

Wie kommt es dazu?
Die Menschen wissen nicht, wie Liebe geht. Sie sind hilflos. Machen Sie im BLICK doch mal eine Serie: Wie lerne ich lieben?

Sagen Sie es uns: Wie lernt man lieben?
Eine Partnerschaft ist wie ein Vogel. Ein Vogel hat zwei Flügel, wenn der eine nicht gleich entwickelt ist wie der andere, ist es ein schräger Vogel. Es braucht Zeit füreinander. Der oder die eine muss klar mitteilen, wenn er oder sie ein Gespräch möchte. Damit der andere darauf eingehen kann. Vielleicht hat der Partner oder die Partnerin etwas ganz anderes im Sinn, möchte ein Schäferstündchen.

Manche Männer und Frauen verlieren sich hingegen vor lauter Symbiose.
Es braucht deshalb auch den Mut, für sich selbst Raum und Zeit zu nehmen. Wer nicht allein sein kann, hüte sich vor der Zweisamkeit.

Da wären wir bei der Meditation, Ihrem Fachgebiet. Viele meditieren, manche auch mit Apps. Wie viel bringt das?
Von Apps halte ich wenig bis gar nichts. Bei Meditation geht es einerseits um Übung und andererseits um eine Haltung. Die Übung kann ein achtsamer Spaziergang sein. Die Haltung ist das, was sich im Alltag, im Leben, in der Beziehung auswirkt.

Wie fange ich an?
Das A und O ist Zeit, sich zurückzunehmen, stillzusitzen und auf den Atem zu achten: Wie geht er? Oberflächlich oder tief, kurzatmig oder ruhig und lange? Das ist der Anfang. Dann geht es darum, wie ich die Welt anschaue: Nur oberflächlich oder lasse ich mich betreffen?

Seit fast 20 Jahren kommen gestresste Berufstätige ins Lassalle-Institut für eine Pause vom Alltag. Wie viel bringt dies, wenn sie danach wieder in ihren gehetzten Alltag einsteigen?
Wir bieten nicht Hand für ein Antistressprogramm, das die Leute dazu animiert, weiterzuwursteln wie bisher.

Was bieten Sie dann?
Eine Auszeit zur rechten Zeit. Man kann schauen, wie man die Übungen nach der Auszeit in den Alltag integrieren kann. Vielleicht eine Viertelstunde Meditation am Morgen, eine Stunde am Wochenende. Und ein paar Tage im Jahr, in denen man sich eine Auszeit für sich nimmt. Das muss man planen. Jeden Chabis trägt man in die Agenda ein, aber nicht Zeit für sich.

Gerade haben wir gezwungenermassen viel Zeit für uns. Was macht Corona mit uns?
Es hält uns zum Narren oder zumindest auf Trab. Ich nenne Corona-Alltag «Leben im Provisorium». Man weiss nicht, was noch kommt und wie lange das Ganze dauert. Der Ausnahmezustand ist zur Regel geworden.

Wie können wir darauf reagieren?
Im Alltag können wir darauf achten, die Wörter Corona und Covid nicht zu oft zu verwenden. Wir sollten der Krankheit nicht zu viel Platz einräumen. An einem physischen Anlass, in der mentalen Vorstellung oder im Gespräch sollten wir Covid vor der Tür lassen. Sonst beleben wir die Angst.

Kann man aus dieser Zeit auch etwas Sinnvolles ziehen?
Covid kann uns aus der Komfortzone locken. Indem wir uns Zeit für Dinge nehmen, die wir schon lange machen wollten. Oder uns neue Dinge vornehmen. Mein persönliches Vorhaben: Ab heute frage ich noch mehr als bisher jeden Abend, wofür ich dankbar bin und was mich glücklich macht.

Als Walliser Bub kraxelten und kletterten Sie, bevor Sie richtig laufen konnten. Jetzt sind Sie 80 Jahre alt. Tut es weh, nicht mehr gleich viel machen zu können?
Das ist eine müssige Frage. So wie ich jetzt lebe, hätte ich mit 20 nicht leben können. In dieser Fülle, in diesem Dankbarsein. Da kam das Studium, die Ausbildung, ich musste zwangsläufig immer nach vorne schauen.

Wird das Müssen im Alter weniger?
Ja. Ich lebe nach folgenden Zeilen eines Gedichts der jüdischen Dichterin Rose Ausländer: «Noch bist du da. Sei, was du bist. Gib, was du hast.» Ich darf jetzt einfach sein.

Man spricht ja immer von Lebensabschnitten – in welchem sind Sie?
Ich bin in der «Noch»-Phase. Die Leute fragen mich: Hältst du noch Vorträge, gibst du noch Kurse? «Noch» schreibe ich an einem neuen Buch mit dem Titel «Gottlos beten». Irgendwann kommt dann die Phase, in der es heisst: Was, der lebt noch?

Das klingt nach «mit dem Alter versöhnt». Haben Sie nie gehadert?
Nein. Schliesslich waren die vielen Jahre der Zen-Meditation für etwas gut.

Haben Sie Angst vor dem Tod?
Mit 83 stelle ich mir die Frage vom Sterben. Im Winter, wenn es so dunkel ist, mehr als im Sommer. Aber ich hatte nie Angst vor dem Leben, warum sollte ich Angst vor dem Tod haben? Der gehört dazu.

Meine Grossmutter sagte mir auf ihrem Sterbebett, dass sie keine Angst vor dem Tod habe, ihre Liebsten warteten schon auf sie, es gehe ja weiter. Sehen Sie das auch so?
Wie es weitergeht, weiss ich nicht. Darauf bin ich gespannt. Jetzt bin ich noch nicht ganz bereit für die grosse Überraschung.

«Weihnachten ist eine Zeit der Begegnung»
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