Wie eine Ukrainerin die Schweiz erlebt
«Sie meinte, ich soll nachts einfach Ohropax reinmachen»

Mehr als 50'000 Ukrainerinnen und Ukrainer sind in die Schweiz geflohen. Kann das Asylsystem so viele Menschen verkraften? Der kantonale Sozialdienst Aargau zieht eine positive Bilanz, doch der Fall von Iryna deutet auf grosse Lücken im System hin.
Publiziert: 22.05.2022 um 01:13 Uhr
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Aktualisiert: 23.05.2022 um 14:58 Uhr
Janina Bauer

Iryna (33) wurde brutal aus dem Schlaf gerissen, als die ersten russischen Bomben in der Nähe ihres Zuhauses einschlugen. Sie stammt aus dem Norden Kiews – unweit der Kleinstadt Butscha. Drei Wochen hielt sie den Beschuss aus, dann konnte sie nicht mehr. «Das andauernde Dröhnen der Bomben, der Flugzeuge, eingesperrt zu sein und nicht mehr schlafen zu können – das hat mich fertiggemacht.»

Ihre Mutter blieb allein in der gemeinsamen Wohnung zurück; die junge Frau floh Ende März über Polen in die Schweiz und brachte eine Nacht im Asylzentrum des Bundes in Zürich zu. Über Facebook sucht sie am nächsten Tag nach einer Bleibe, Bekannte haben ihr dazu geraten. Für ein paar Wochen kommt sie bei Gastfamilien im Kanton Aargau unter. An beiden Orten fühlt sie sich unwohl und nicht willkommen. Sie kann immer noch nicht schlafen. Schliesslich vermittelt ihr die zuständige Gemeinde ein Zimmer.

Es ist Anfang Mai, als SonntagsBlick sie dort das erste Mal besucht. Irynas blasses Gesicht ist von Müdigkeit gezeichnet. Beim Sprechen vermeidet sie Augenkontakt, verhaspelt sich oft. Ihr Zimmer ist eines von zwölf im ersten Stock eines ehemaligen Gasthofs. Die Bewohner teilen sich zwei Bäder und eine Küche. 575 Franken zahlt die Gemeinde monatlich dafür. Der Raum ist schlicht möbliert und heruntergekommen: Die Wände sind fleckig, es müffelt, das Fenster ist zersprungen.

Iryna ist aus dem Norden Kiews in die Schweiz geflohen – um Zuflucht zu finden. Stattdessen haust sie nun in einem schäbigen Zimmer.
Foto: Siggi Bucher
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Neben dem Haus liegt eine Strasse, viele Lastwagen fahren dort durch. Der Lärm dringt beinahe ungefiltert herein, vom Flur sind Schritte und das Rauschen der Dusche zu hören. Iryna klopft mit dem Finger an die Wand zum Nebenzimmer – sie besteht nur aus dünnem Gips: «Da drüben wohnt ein Mann oder ein Paar. Sie haben fast jede Nacht Sex. Die Geräusche sind animalisch.» Die Schreie, sagt sie, erinnern sie an die Gewalt in ihrem Heimatland, der Verkehrslärm an das Dröhnen der russischen Bomber. Sie leidet nach wie vor unter Schlafmangel, fühlt sich angespannt und gestresst. Dazu kommt: Iryna ist am seltenen Basedow-Syndrom erkrankt – einer Autoimmunerkrankung der Schilddrüse. Es löst Herzrasen, Nervosität und Bluthochdruck aus. Stress begünstigt die Symptome.

Ohne Schlaf, ohne Hilfe

«Ich kann hier nicht bleiben. Ich brauche dringend einen Ort, an dem ich mich ausruhen und endlich schlafen kann.» In ihrer Verzweiflung wendet sie sich wieder an ihre Betreuerin bei der Gemeinde. Doch die findet keine andere Unterkunft für sie. Den Wohnort wechseln darf sie nicht, das setzt eine Sondergenehmigung des Kantons voraus. Also wendet sich Iryna an den kantonalen Sozialdienst.

Dort heisst es zunächst, die Gemeinde sei zuständig. Dann verweist man die Ukrainerin an die Hilfe-Hotline des Staatssekretariats für Migration (SEM). Schliesslich empfiehlt man ihr, einen Platz in einer Klinik zu suchen oder – entgegen der offiziellen Empfehlung der Behörden – auf eigene Faust eine neue Unterkunft via Facebook.

Iryna ist eine von mittlerweile über 50'000 ukrainischen Geflüchteten in der Schweiz. Ihre Erfahrungen im Kanton Aargau zeigen: Es gibt Lücken im Asylsystem. Verantwortlichkeiten sind unklar, der Informationsfluss häufig ungenügend. Ein administratives Chaos, das die Behörden selbst nicht verstehen – und die Geflüchteten erst recht nicht.

«Eine riesige Herausforderung»

Anruf bei Pia Maria Brugger Kalfidis. Die Leiterin des kantonalen Sozialdienstes im Aargau sagt: «In zweieinhalb Monaten sind mehr Schutzsuchende eingetroffen als während der grossen Flüchtlingskrise 2014 bis 2016 pro Jahr. Eine riesige Herausforderung für alle Beteiligten.» Keine Stufe des Asylsystems – vom Bund bis hin zu Gemeinden – habe über Vorhalteleistungen verfügt, so viele Menschen zu versorgen, ergänzt Michel Hassler, Mediensprecher der Behörde. Dazu zählten unter anderem verfügbare Unterkünfte und Ressourcen zur Registrierung und Betreuung der Geflüchteten. Die schiere Zahl der Geflüchteten ist allerdings nicht der einzige Faktor, der den Behörden zu schaffen macht.

Neu ist auch die hohe Anteilnahme der Zivilbevölkerung. Der grösste Teil der ukrainischen Mütter, Kinder und älteren Menschen wurde in Gastfamilien und Privatunterkünften untergebracht. So hatte es das Staatssekretariat für Migration (SEM) zu Beginn der Flüchtlingswelle entschieden. Organisiert wird das Ganze über die Schweizerische Flüchtlingshilfe (SFH) – es sei denn, die Geflüchteten beschaffen selbst eine Bleibe über Facebook oder andere soziale Medien.

Davon raten die Behörden zwar ab. Tatsächlich aber gelangen die meisten Geflüchteten auf diese Weise an eine Unterkunft. Zahlen aus dem Kanton Aargau von Mitte Mai veranschaulichen das: Von 3869 Zugewiesenen wohnen 2865 in Privatunterkünften, nur 685 aber wurden durch die SFH platziert. Der Rest behalf sich privat oder über Dritte. Ähnlich im Kanton Bern: Ein Drittel der Privatplatzierungen – Stand: Anfang Mai – führte die SFH durch, zwei Drittel erfolgten auf private Initiative. Und auch die Medienstelle des Kantons Graubünden bestätigt: Der grösste Teil der Privatunterkünfte sei selbständig organisiert worden.

Neues System sorgt für Chaos

Ob sich die Geflüchteten selbst organisieren, weil es schneller und unkomplizierter ist, als den offiziellen Weg zu gehen, kann niemand sagen. Tatsache ist: Die Privatinitiative warf die bisherigen Abläufe des Asylsystems über den Haufen – also Registrierung durch das SEM, Zuteilung an den Kanton, anschliessende Platzierung durch den kantonalen Sozialdienst. Sozialdiensleiterin Brugger Kalfidis erklärt: «Bisherige Zuständigkeiten waren plötzlich nicht mehr gültig, und viele neue Fragestellungen mussten geklärt werden, sowohl in Bezug auf die Unterkünfte als auch auf Rechtliches, den Schutzstatus S, den Zugang zum Arbeitsmarkt, Sprachförderung, Sozialhilfeleistungen.» Zudem sei es schwierig gewesen, Informationen an die zuständigen Stellen oder Personen zu übermitteln. Mittlerweile habe sich die Lage aber beruhigt, so Brugger Kalfidis, da man viele Fragen klären und neue Prozesse definieren konnte.

Klar ist auch: Ohne die hohe Beteiligung von Privatpersonen wäre das Ganze nicht zu stemmen gewesen. «Wir sind angewiesen auf die Privatunterkünfte, denn es kommen täglich weiter Schutzsuchende, und es fehlen immer noch Unterbringungsmöglichkeiten», so Mediensprecher Hassler, was auch der Fall von Iryna zeigt. «Deshalb bauen der Kanton Aargau und die Gemeinden Wohnraumkapazitäten aus.» Weil unsicher sei, wie lange die Menschen bei Gastfamilien bleiben können.

Ukrainerin auf sich selbst gestellt

Insgesamt zieht man bei der Sozialhilfe im Aargau eine positive Bilanz. «Die Rückmeldungen unserer Teams und der Gemeinden sind durchaus positiv. Viele Probleme waren auch administrativer Natur – das konnte aber in den letzten Wochen stark verbessert werden», sagt Leiterin Brugger Kalfidis. Die Gastfamilien seien zudem eine grosse Hilfe bei der Alltagsbewältigung. Das SEM stimmt zu. «Die Notfallkonzepte des Bundes und der Kantone haben von Anfang an funktioniert. Alle Geflüchteten konnten aufgenommen und versorgt werden, alle haben ein Dach über dem Kopf», schreibt Mediensprecher Daniel Bach.

Inzwischen ist es ziemlich genau zwei Monate her, seit Iryna ihre Heimat im Norden Kiews verlassen hat. Zwei Monate voller Stress, Angst und Schlaflosigkeit, auch in der Schweiz. Die letzte Sitzung mit ihrer Gemeindebetreuerin sei enttäuschend gewesen. «Eine neue Unterkunft hat sie nicht gefunden, dafür meinte sie, ich soll nachts einfach Ohropax reinmachen.» Die Gemeinde möchte sich gegenüber dem SonntagsBlick nicht äussern.

Iryna nimmt ihr Schicksal nun selbst in die Hand. Wenigstens bis zur kommenden Woche kann sie bei Bekannten im Dorf unterkommen. Danach sei alles offen. Mittlerweile spielt sie sogar mit der Überlegung, den Schutzstatus S zu annullieren, um nicht mehr an ihre Registrierung in der Aargauer Gemeinde gebunden zu sein. Doch dann würde sie auch die Krankenversicherung verlieren – und damit den Zugang zur notwendigen medizinischen Versorgung ihrer Krankheit.

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