Martin Vetterli, Präsident der EPFL
«Das Wohlergehen der Schweiz ist direkt bedroht»

Martin Vetterli, Präsident der Eidgenössischen Hochschule in Lausanne (EPFL) ist besorgt: Die tiefe Impfrate und der Rauswurf der Schweiz aus dem europäischen Forschungsprogramm Horizon seien eine Gefahr für die Schweiz. Vetterli fordert den Bundesrat zum Handeln auf.
Publiziert: 20.09.2021 um 06:26 Uhr
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Aktualisiert: 20.09.2021 um 11:34 Uhr
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Michel Jeanneret

Martin Vetterli, Präsidenten der EPFL betritt den Raum auf dem Campus in Lausanne VD, wo das Interview stattfindet, mit einer Maske. Die erste Frage stellt er gleich selbst.

Martin Vetterli: Hallo! Wie geht es Ihnen? Sind Sie geimpft?

Blick: Gut, danke! Ja, soll ich Ihnen mein Zertifikat zeigen?
Vetterli: (Lachend) Nein, nein, ich glaube Ihnen – dann können wir uns ja die Hand geben!

Die Eidgenössische Technische Hochschule in Lausanne (EPFL) gehört zu den besten Universitäten Europas.
Foto: Keystone
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Kommen wir gleich zur Sache: Wie beurteilen Sie die aktuelle Corona-Situation?
Ganz ehrlich, die aktuelle Situation und die stagnierende Impfquote machen mir Sorgen. Selbst wenn nun strengere Massnahmen getroffen wurden, um eine Situation wie im letzten Herbst zu verhindern.

Wir werden beim Impfen sogar von südamerikanischen Staaten überholt!
Ja, es ist peinlich ... Viele Menschen sind noch immer der Meinung, dass die Krankenhäuser über die nötigen Kapazitäten verfügen und sie sich deshalb nicht impfen müssen. In diesem Verhalten spiegelt sich ein Individualismus, mit dem es schwer wird, als Gesellschaft eine solch kollektive Herausforderung wie diese Pandemie zu bewältigen.

Das klingt etwas philosophisch.
Ich bin kein Philosoph, aber diese Pandemie sollte uns schon dazu bringen, gewisse Dinge zu hinterfragen.

Martin Vetterli

Martin Vetterli (62) wuchs als Kind Deutschschweizer Eltern im Kanton Neuenburg auf. Nach einem Ingenieurstudium an der ETH Zürich und der Stanford University im Silicon Valley (USA) machte er an der École polytechnique fédérale de Lausanne (EPFL) den Doktor. Nach Professuren an den Elite-Universitäten Columbia in New York und Berkeley in Kalifornien kehrte er 2004 an die EPFL zurück, wo er 2011 Dekan der Fakultät für Informatik wurde. Von 2013 bis 2016 leitete er den Forschungsrat des Nationalfonds. Seit 2017 ist er Präsident der EPFL. Martin Vetterli ist verheiratet und hat zwei Kinder.

Martin Vetterli (62) wuchs als Kind Deutschschweizer Eltern im Kanton Neuenburg auf. Nach einem Ingenieurstudium an der ETH Zürich und der Stanford University im Silicon Valley (USA) machte er an der École polytechnique fédérale de Lausanne (EPFL) den Doktor. Nach Professuren an den Elite-Universitäten Columbia in New York und Berkeley in Kalifornien kehrte er 2004 an die EPFL zurück, wo er 2011 Dekan der Fakultät für Informatik wurde. Von 2013 bis 2016 leitete er den Forschungsrat des Nationalfonds. Seit 2017 ist er Präsident der EPFL. Martin Vetterli ist verheiratet und hat zwei Kinder.

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Welche?
Alle versuchen zu verstehen, welche Länder am besten durch die Krise kommen. Eine Antwort lautet meiner Meinung: Je ungleicher eine Gesellschaft ist, umso schlechter kommt sie durch die Krise. Schauen Sie sich die Beispiele Russland, USA oder Brasilien an. Nur eine sozioökonomisch ausgeglichene Gesellschaft kann das Bewusstsein einer Schicksalsgemeinschaft entwickeln – und genau das braucht es in einer Pandemie.

Derzeit erleben wir in der Schweiz aber das Gegenteil: eine Spaltung der Gesellschaft zwischen Impfbefürworter und Impfgegner. Macht Ihnen das Angst?
Ja, weil es dabei sehr ideologisch, unwissenschaftlich und nicht faktenbasiert zu- und hergeht. Sprechen Sie mit Notärzten, sehen Sie sich an, wer die Betten auf der Intensivstation belegt. Ich würde mir wünschen, dass all diejenigen, die die wissenschaftlichen Fakten anzweifeln, mit den Menschen sprechen, die vor Ort kämpfen und die deprimiert sind, wenn man den Sinn von Impfungen bezweifelt.

Weshalb zögern Menschen, sich impfen zu lassen?
Die Skeptiker kennen nur das Wort «ich». Ich persönlich habe mich nicht in erster Linie geimpft, um mich selbst, sondern um die Mitglieder meiner Familie zu schützen, insbesondere meine 92-jährige Mutter. Wie bereits erwähnt: sich zu impfen, ist eine soziale und kollektive Verantwortung. Nur eine hohe Impfquote wird das Virus stoppen können.

Diese Pandemie hat der Wissenschaft Gehör verschafft. Ist das für einen Hochschulpräsidenten nicht auch ein Segen?
Es wäre sehr zynisch zu sagen, dass die Pandemie für irgendjemanden ein Segen sei. Aber ja, die dramatische Situation hat der Forschung Energie verliehen – und die Entwicklung von Impfstoffen in weniger als einem Jahr ermöglicht! Die Pandemie hat zwar gezeigt, dass die Wissenschaft für die Gesellschaft von grundlegender Bedeutung ist, aber sie hat auch einige unserer Schwächen offenbart.

Welche?
Zusammen mit der wissenschaftlichen Arbeitsgruppe haben wir in 23 Tagen die Contact-Tracing-App Swisscovid erstellt und Google und Apple dazu gebracht, ihre Betriebssysteme anzupassen. Da es sich um eine Open-Source-Anwendung mit den besten Sicherheitsprotokollen handelt, habe ich naiverweise angenommen, dass 50 Prozent der Bevölkerung sie installieren würden.

Es waren am Ende nur gerade 25 Prozent.
Ja, und gleichzeitig teilen viele Schweizer seit 15 Jahren ihr ganzes Privatleben auf Facebook, ohne sich Gedanken über die Privatsphäre zu machen.

Welche Fehler haben Sie gemacht?
Wir haben die Arbeit im Vorfeld nicht gemacht, wir wussten nicht, wie die App erklären und konnten Ängste bezüglich Datenschutz nicht ausräumen. Wir, die Wissenschaftler, sind manchmal zu abgehoben. Wir müssen zugeben, dass es uns an Demut gefehlt hat.

Apropos Wissenschaft: Nach der Kündigung des Rahmenabkommens hat die EU die Schweiz aus dem europäischen Forschungsprogramm Horizon ausgeschlossen. Welchen Stellenwert hat Horizon Europe?
Ich würde sagen, es ist die Champions League der Wissenschaft. Seit 1978 ist sie der Treiber für Forschung und Innovation in Europa. Das derzeitige Programm läuft von 2021 bis 2027 und schüttet insgesamt 95 Milliarden Euro aus.

Welche Konsequenzen hat der Ausschluss für die EPFL?
Konkret bedeutet dies, dass die EPFL die Koordination von sechs gemeinsamen europäischen Projekten nicht mehr weiterführen kann. Auch die Gründung von Start-ups und Spin-offs wird betroffen sein. Doch es ist noch viel schlimmer: Ziel der Forschung ist es, Innovationen hervorzubringen und Arbeitsplätze mit hoher Wertschöpfung zu schaffen. An der EPFL werden von den mehr als 5000 Beschäftigten 500 Stellen durch europäische Projekte finanziert. Zudem sind Zulieferer der EPFL finanziell gefährdet. Das sind meist Schweizer Unternehmen mit einem Jahresumsatz von zehn Millionen Franken. Aber das ist nur die Spitze des Eisbergs: Es steht weit mehr auf dem Spiel als unsere Institution. Die Schweizer Wirtschaft und damit unser Wohlergehen sind direkt bedroht.

Das tönt sehr ernst!
Die Schweiz ist eine Art Silicon Valley in der Mitte Europas. Wir haben uns für ein stark internationalisiertes Wirtschaftsmodell entschieden, mit grossen Konzernen wie Nestlé, der Pharmaindustrie und Banken auf der einen Seite – und einer Spezialisierung auf die Bereiche Hightech und IT auf der anderen Seite. Im Silicon Valley sagt man, dass ein Hightech-Arbeitsplatz sieben weitere Arbeitsplätze schafft. In der Schweiz sind es vielleicht nicht ganz so viele, aber es geht um den Erhalt einer leistungsfähigen Wirtschaft, die uns einen hohen Lebensstandard ermöglicht.

Was erwarten Sie jetzt konkret vom Bundesrat?
Dass er Klartext spricht. Wenn die europäische Forschung seine Priorität ist, sollte er alles tun, um die Schweiz in Horizon Europe einzubinden. Die Energie und das Know-how der Schweizer Diplomatie müssen genutzt werden, um uns an diesem Programm zu beteiligen. Unser Ausschluss ist nicht unvermeidlich. Grossbritannien hat es geschafft, trotz Brexit in Horizon zu bleiben.

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