«Es ist ein grossartiges Jahr!»
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Wegen Corona wirds eng
Dichtestress in den Bergen!

Ballermann am Alpsee, Zoff im Souvenirshop, erste Gehversuche auf dem Gipfel: Im Sommer 2020 bleiben die Schweizer daheim. Es wird eng.
Publiziert: 12.07.2020 um 00:52 Uhr
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Aktualisiert: 16.03.2021 um 17:00 Uhr
Tobias Marti (Text) und Siggi Bucher (Fotos)

Schwer zu sagen, ob den Kühen am Oeschinensee im Kanton Bern jemals ein solches Publikum geboten ­wurde: Frauen, die im Bikini und im Tigerfellfummel durch die Idylle wandern; Jogger, die hetzen, als ­wären sie auf der Flucht; Surfer, die ihre Bretter über den Fels zum Bergsee wuchten; Kopftuch-Grosis, die schnaufend durchs Tal wackeln. Und dann sind da auch noch Celine und Nicole, die gerade ziemlich viel Stimmung verbreiten.

«Das hätten wir doch sonst nie gemacht», ruft Celine und rudert mit den Armen. Mit Bierdosen und Zigaretten und Gejohle passt ihr Trupp an ­einen Bergsee wie ein Sangria-Eimer mit roten Strohhalmen.

«Ferien in den Bergen. Klar ist das für uns neu», sagt Ce­line lachend. So im Nachhinein findet sie ­es wohl selber absurd. Celine und ihre Freunde aus dem Berner Seeland würden jetzt eigentlich in Spanien am Strand liegen: Al­mería in Anda­lusien, 32 Grad, Sonne. Dann kam die Corona-Pandemie, die Flüge wurden storniert, die Finca verriegelt. Also ging es halt ins Berner Oberland.

Beim Oeschinensee setzt dieser Tage eine Völkerwanderung ein.
Foto: Siggi Bucher
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«Ganzer Stress fällt weg»

«Ist eigentlich viel praktischer. Der ganze Stress mit dem Gepäckwiegen fällt so ja weg», stellt Nicole fest. Ihre ­Familie besitzt im Kiental ein Haus. Und da sind sie nun alle zusammen. Und jetzt bei den Kühen am ­Oeschinensee. Super Stimmung. «Nur der Strand fehlt», finden die beiden Frauen.

Celine ist der «Tätschmeister» der Truppe: «Wie ne More!», ruft sie. Das Nachtleben im Kiental ist zwar nicht so berauschend, aber nun ­feiern sie halt im Ferienhaus. Wie sie das sagen, so meinen sie das auch. Verluste inklusive. Denn leider brach sich ein Begleiter bereits den Zeh. Beim Wandern – so viel wird schnell klar – passierte das nicht. «Trotzdem ­befahl sie uns, hochzulaufen», motzt der lädierte junge Mann nun und humpelt nach vorn zu Frau Tätschmeister. Runter ins Tal nehme er die Gondel, protestiert er. Und alles grölt.

Vom Schweizer Wanderer ist man sich anderes gewohnt – er flüstert normalerweise in der Gondel, weil ja jeder bei jedem mitlauschen kann, deutet höchstens mal auf eine Felswand und hat selbst gemachte Sandwiches dabei. Aber das war einmal. Im Corona-Sommer bleiben Hunderttausende im Land, die sonst woanders wären: in Italien, Spanien, auf dem Balkan … Nun steigt auch die restliche Schweiz in die Höhen­lagen empor.

Kein ausländischer Reisecar

Der Blausee, jener Schatz im Berner Oberland mit seinen zahmen ­Forellen, zeigt dies exemplarisch. Drinnen im Park ist babylonisches Sprachengewirr zu vernehmen. Draussen auf dem voll besetzten Parkplatz stehen – von vereinzelten deutschen abgesehen – zu 99 Prozent Autos mit Schweizer Kennzeichen. Denn Basler und Berner haben diese Woche schon Ferien. Kein ausländischer Reisecar weit und breit.

Im Souvenirshop bellt ein kleiner, wütender Herr Befehle, die alle ­Anwesenden in tiefe Ratlosigkeit stürzen. Was hat der Mann? «Abstand! Abstand halten! In Asien ­können sie es ja auch», attackiert das Wutmännlein eine Reisegruppe, die ursprünglich aus Basel und Paris kommt und tatsächlich etwas nah beisammensteht. «Der hält uns für eine Reisegruppe aus Asien», staunt Migmar Raith in breitem Baseldytsch und schüttelt den Kopf.

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Raith kam als Pflegekind im Alter von vier Jahren aus Tibet in die Schweiz. Das ist bald 60 Jahre her. Heute ist er Gymnasiallehrer, sitzt in der Basler Bürgergemeinde und kandidiert fürs Kantonsparlament. Er ist ein bisschen bekannt – als einer der ersten Exiltibeter hierzulande war er auch schon in der Zeitung. Für den Ausflug an den Blausee hat er ein ­Poloshirt seines geliebten FC Basel angezogen – er stammt also sichtlich nicht aus Wuhan oder so ...

All dies würde er dem Fremden gern erklären. Indes: Nach seinem Ausbruch orderte der wütende Herr zwei Billette, reichte eines seiner ­asiatischen Frau und verschwand durchs Drehkreuz in den Park.

Nerven blank wegen Corona

Bei manchen Mitbürgern hat die Pandemie die Nerven blank gelegt. Soweit sie die Not­lage überblicken können, waren da vor allem Feinde: erst Chinesen und Italiener, dann Abstands- und Maskenignoranten, jetzt die Serben und die Superspreader. Die Welt hat sich verschworen. In Norditalien, so hört man, schreien sie einander im Laden an, wenn jemand den Abstand nicht einhält.

Die junge Italo-Schweizer Familie Saporosi auf dem Niesen im Berner Oberland ist indes tiefenentspannt. Zum ersten Mal verbringen Romina, Alessio, Romeo (31/2) und Emilio (2) Saporosi Sommerferien in der Schweiz, normalerweise wären die Basler jetzt in Tortoreto (I), in Alessios väterlicher Wohnung am Meer.

«Wir blieben zur Sicherheit hier, wegen möglicher Covid-Ausbrüche in Italien», sagen die Eltern. Romina hat ein Picknick eingepackt, die Buben turnen auf dem Gipfel he­rum. Ihre Alpenassimilation ist in vollem Gang.

«Der Niesen war uns viel zu teuer. Für das Geld haben wir Bier ­gekauft!», sagt Nicole unten am Oeschinensee, wo es Zeit wäre für eine Erfrischung. Tätschmeister Celine jedoch hat andere Pläne und treibt ihre Truppe heimwärts. Schön sei es in der Schweiz: «Aber nächstes Jahr gehen wir wieder nach Spanien.»

Ziehen sich Wanderer zurück?

Und so zieht die Gruppe samt ­ihresgleichen an altgedienten Rot­socken vorbei. Mancher Vertreter des Wanderer-Urtyps fährt zwar noch instinktiv die Ellenbogen gegen die vielen Eindringlinge aus, aber das sind nur noch Rückzugsgefechte.

Der Fortschritt fährt mit Elektroantrieb, ist blau lackiert und kostet acht Franken pro Billett. Wer in das Büslein einsteigt (Achtung, Maske!) und sich die zwanzig Minuten Fussweg zwischen Bergstation und ­Oeschinensee spart, wandert an dem Tag nicht mehr viel. Man denkt an diese Busbilder aus Indien, vollgestopft und vollgepackt. Ganz so ist es hier nicht. Der Fahrstil aber ist wie in Mumbai.

Kaum zu glauben, wie scharf der kleine blaue Bus die Kurven nimmt und Wanderer in die rettenden Büsche treibt. Wer vom Rugenbräu von vorhin noch etwas langsam ist, muss aufpassen.

Ja, so sieht es diesen Sommer in den Bergen aus. Und jetzt haben auch noch die Zürcher Ferien!

Parkplatz am Klöntalersee zu

Der Klöntalersee im Kanton Glarus ist bei den Besuchern auch sehr beliebt. Der Verkehrskadett Martin Steinmann (24) sorgt am Sonntag vor Ort für Parkplatzordnung. «Wir schauen, dass die Autos nicht einfach irgendwo parkieren», sagt er zu BLICK. Steinmann wird von Arben Dzelili (36) von der Sicherheitsfirma Skorp unterstützt. «Die Herausforderung ist, den Leuten klar zu machen, dass die Strasse für den Rettungsdienst frei bleiben muss und wir darum irgendwann weiter unten sperren müssen.»

Die Seebesucher würden sonst schlimmstenfalls gar am Strassenrand abstellen. Am Sonntagnachmittag ist klar: Die Wanderer, die mit dem Auto anreisen, müssen im Tal parkieren und zu Fuss hochlaufen.

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