Warum liegt die Impfquote so tief?
Psychogramm der impfskeptischen Schweiz

Die Schweiz rühmt sich guter Bildung und Spitzenmedizin. In internationalen Rankings liegt die Schweiz oft vorn. Anders bei der Impfquote: In Westeuropa bildet die Schweiz das Schlusslicht – hauchdünn vor Österreich. Dies sind die möglichen Gründe.
Publiziert: 08.11.2021 um 02:34 Uhr
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Aktualisiert: 08.11.2021 um 08:11 Uhr

Diese Woche wollen es die Behörden noch einmal wissen. Die Offensive der nationalen Impfwoche unter dem Motto «Gemeinsam aus der Pandemie» läuft heute an. Die Impfquote im Land liegt bei 66 Prozent, knapp vor Nachbar Österreich, wo sich schon wieder Stimmen mehren, die sich für einen kurzen, harten Lockdown stark machen.

Gerade in Bildungs-, Wirtschafts- und Finanzfragen erachten sich Schweizer oftmals weltweit als führend, was auch internationale Rankings bestätigen. Ausgerechnet beim Impfen gegen das Coronavirus wird die Schweiz von Industrieländern abgehängt. Was sind die Gründe? Die Tamedia-Zeitungen haben Erklärungen mehrerer Experten gesammelt und in ein Listicle verarbeitet.

Obwaldner glauben nicht an Erfolg der Impfwoche
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«Nützt nicht viel»:Obwaldner glauben nicht an Erfolg der Impfwoche

Plakat des Bundesamt für Gesundheit (BAG) zur nationalen Impfwoche, die heute Montag beginnt.
Foto: Keystone
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Vergleichsweise milde Pandemie

Obwohl insgesamt bislang fast 11'300 Todesfälle zu beklagen sind: Im Vergleich mit anderen westeuropäischen Ländern scheint die Schweiz bislang noch gut davongekommen zu sein. Opferzahlen in Italien, Frankreich, Spanien, Portugal und Grossbritannien liegen im Bevölkerungsschnitt höher und Lockdowns dort waren harscher. Auch wirtschaftliche Folgen der Pandemie vermochte die Schweiz mit vielen Milliarden abzufedern.

Verschwörungstheorien und Halbwahrheiten

Das mag dem allgemeinen Bildungsniveau in der Schweiz widersprechen, doch gerade der deutschsprachige Raum scheint empfänglicher für Verschwörungstheorien und Halbwahrheiten, die von Impfskeptikern verbreitet werden. Tamedia-Zeitungen zitieren dazu den Epidemiologen Marcel Tanner (69).

Zweifler gebe es rund um den Erdball, so Tanner. Im deutschsprachigen Raum, wozu eben auch die unterdurchschnittlich geimpften Deutschland und Österreich zählen, seien die Skeptiker besonders früh und wirkmächtig aufgetreten. Tanner: «Sie verbreiteten viele Halbwahrheiten zu Corona.»

Gute Spitäler

Weiter vertraut die Schweizer Bevölkerung auch ihrem vorzüglichen Gesundheitswesen. Auch wenn man erkranke, die Spitäler würden das schon richten. «Möglicherweise kann man sich eine impfablehnende Haltung hierzulande eher leisten, weil man weiss, dass man dank unserer sehr guten Spitäler ja immer noch einen Fallschirm hat, sollte man doch schwer erkranken», sagte der Zürcher Infektiologe Jan Fehr zu Blick.

Geringere Gesundheitsprävention

Das hervorragende Gesundheitswesen führt aber auch zu Schwachpunkten bei der Pandemiebekämpfung: Menschen vertrauen eher darauf, dass Ärzte bei Beschwerden eine Lösung haben. Präventiv vorzusorgen durch Anpassung der Lebensweise und Stärkung des Immunsystems, das entspreche wohl eher weniger der Vorgehensweise von Schweizern.

«Der Präventionsgedanke ist überall dort schwach ausgeprägt, wo das Gesundheitssystem für jede Beschwerde eine Lösung hat – so wie in der Schweiz», wird Flurin Condrau, Medizinhistoriker an der Universität Zürich, von Tamedia zitiert. So habe Gesundheitsprävention etwa in Skandinavien generell einen höheren Stellenwert. Das schlage sich dort in einer höheren Impfquote nieder.

Toleranz gegenüber Impfverweigerern

Während etwa in Frankreich und in andern Ländern de facto Impfzwang herrscht, wird die tiefe Impfquote in der Schweiz von Impfkritikern auch gern mit der politischen Freiheit im Land erklärt. Die Verfassung schütze die Freiheit der Menschen besser als in den meisten europäischen Ländern, sagt der erklärte St. Galler Impfgegner Daniel Trappitsch.

Michael Hermann of the research center Sotomo, in Zurich, Switzerland, on June 3, 2015. (KEYSTONE/Christian Beutler)Michael Hermann von der Forschungsstelle Sotomo, am 3. Juni, in Zuerich. (KEYSTONE/Christian Beutler)
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Freiheitsliebe und Föderalismus

Hinzu komme die Freiheitsliebe obrigkeitskritischer Schweizer, so Trappitsch. Das betätigt auch der Zuger Mitte-Präsident Gerhard Pfister (59). Gerade in der Innerschweiz werde oft reflexartig auf behördliche Vorgaben reagiert. «Manche Innerschweizer haben einen antizentralistischen, freiheitlichen, antiobrigkeitlichen Reflex», so Pfister – und er «teile diesen Reflex durchaus».

Verwandt damit: Laut Historikern verstärke Föderalismus noch den Individualismus von Schweizern.

Schwurbler und der SVP-Faktor

Dass die Schweiz wohl das einzige Land der Welt ist, in dem die grösste Regierungspartei kritisch gegenüber Corona-Massnahmen ist, wird auch im Ausland bemerkt. Die «FAZ» spricht vom «Aufmarsch der Schwurbler» in der Schweiz.

Die Skepsis in der Bevölkerung gegenüber den vergleichsweise «sehr zurückhaltenden staatlichen Corona-Massnahmen» gehe zwar weit über die konservative Klientel der SVP hinaus, schreibt die Zeitung. Doch die «grösste Schweizer Partei hat erkannt, dass sie in diesem Protestmilieu neue Anhänger für sich gewinnen kann».

Sogar ein Bundesrat zeige Nähe zu ihnen: «SVP-Finanzminister Ueli Maurer hat mehrfach offen Verständnis für Impfskeptiker und Zertifikatsgegner bekundet.» Nach Ansicht von SVP-Präsident Marco Chiesa (47), schreibt die «FAZ», «diskriminiert das Gesetz weite Teile der Bevölkerung und spaltet die Gesellschaft». (kes)

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