«Ganz Europa bräuchte jetzt einen Lockdown!»
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Experten fordern Koordination:Kommt jetzt der europaweite Lockdown?

Virologin Isabella Eckerle hat Corona-Mutation in der Schweiz nachgewiesen
«Ganz Europa bräuchte jetzt einen Lockdown!»

Die Wissenschaftlerin Isabella Eckerle ist eine der wichtigsten Stimmen in der Corona-Krise. SonntagsBlick erklärt sie die neue Mutation, das Impfdilemma – und wo noch immer zu wenig getestet wird.
Publiziert: 27.12.2020 um 08:59 Uhr
|
Aktualisiert: 22.01.2021 um 12:52 Uhr
Interview: Fabienne Kinzelmann

Eigentlich hätte Isabella Eckerle gerade frei. Doch mit Abschalten wird es für die Genfer Virologin nichts, die neue Mutation beschäftigt sie und ihr Team. «Ich hatte mir etwas Ruhe gewünscht», sagt Eckerle beim SonntagsBlick-Interview per Videocall. «Aber alle paar Wochen kommt wieder etwas Neues, auf das man nicht vorbereitet ist.» Dem Coronavirus sind die Feiertage eben egal.

In welchem Land würden Sie eigentlich aktuell am liebsten leben?
Isabella Eckerle: Neuseeland wäre schön. Und wenns nur ein Tag wäre, um mal aufzutanken. Die Neuseeländer können ganz normal Weihnachten feiern und ihrem Leben nachgehen, während der Rest der Welt mit dieser Krise massiv zu kämpfen hat.

Die Neuseeländer haben natürlich auch den Inselvorteil …
Das reicht nicht, um den Erfolg zu erklären. Wir in der Schweiz hatten zum Beispiel schon früh die Testmethoden aufgebaut und die Schnelltests angeboten. Erfolgreich waren aber die Länder, die alle Massnahmen gleichzeitig und frühzeitig aktiviert habe. Zuwarten wird in einer Pandemie bestraft.

Virologin Eckerle: «Ich will dieses Virus auf keinen Fall kriegen.»
Foto: © Mark Henley/Panos Pictures
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Hat der Bundesrat die Wissenschaft ignoriert?
Ja, ich hab schon das Gefühl, dass die wissenschaftlichen Warnungen oder auch die wissenschaftlichen Ergebnisse nicht die erste Priorität hatten. Das muss man leider so sagen.

Auch nach zehn Monaten habe ich immer noch nicht verstanden: Wie gefährlich sind Kinder?
Das kann man immer noch ganz schwer sagen. Weil Kinder nur selten Symptome haben, testen wir sie zu wenig. Laut BAG-Kriterien müssen Kinder unter zwölf Jahren nicht unbedingt getestet werden. Eine neue Antikörper-Studie in Genf hat uns gerade gezeigt, dass in der zweiten Welle quer durch alle Bevölkerungsgruppen etwa 22 Prozent infiziert waren – Kinder ab sechs Jahren genauso häufig wie Erwachsene.

Was bedeutet diese «Untertestung»?
Dass wir ganz viel verpassen. Wir müssen alle Altersgruppen erfassen. Und wir müssen verstehen, was an den Schulen passiert. Wo stecken sich Kinder an? Im Klassenraum? Beim Sport? Durch den Lehrer? Dann kann man auch gute Schutzkonzepte entwickeln. Kinder können die Infektionen in die Familien tragen, wo es häufig Risikogruppen gibt.

Viele Familien sind darauf angewiesen, dass die Grosseltern die Enkel hüten.
Deswegen ist die Gesamtstrategie so wichtig. Eine Studie hat gezeigt: Wenn die Fallzahlen insgesamt niedrig sind, findet man auch an den Schulen keine Fälle. Das sollte uns motivieren, die Fallzahlen einzudämmen. Gerade sollte man es gut abwägen, sein Kind zu den Grosseltern zu bringen. Eine Ansteckungsgefahr besteht bei den aktuell hohen Fallzahlen.

Ihr Labor hat just nachgewiesen, dass die in Grossbritannien entdeckte Mutation bereits in der Schweiz ist. Was wissen wir bislang darüber?
Dass es eine Virusvariante ist, die es schon seit September gibt und die sich nun innerhalb von kürzester Zeit in England ganz deutlich durchgesetzt hat. Erste Daten sprechen dafür, dass diese Variante viel ansteckender ist. Erstaunlich ist, dass sie im Südosten Englands zuerst auftrat, wo die Regeln locker und die Fallzahlen sehr hoch waren. Da würde man eine grössere Durchmischung von verschiedenen Varianten erwarten – und nicht, dass eine Variante alle anderen zurückdrängt. Das besorgt mich. Wir wissen allerdings noch nicht, inwiefern dies an der Eigenschaft des Virus liegt oder noch durch andere Faktoren, wie zum Beispiel geringe Massnahmen in der Region, verstärkt worden ist.

Gibt es mehr oder weniger schwere Verläufe durch die Mutation?
Vorläufige Analysen zeigen keinen Unterschied. Aber wenn die Mutation tatsächlich ansteckender ist, macht das die Eindämmung des Virus noch schwieriger – und kann so auch zu mehr Todesfällen führen.

Beeinflusst die Mutation Ihre Forderungen nach einer europaweiten Corona-Strategie?
Sie stützt sie: Das Virus respektiert keine Landesgrenzen. Dafür gibt es zu viel Mobilität. Wollen wir gut durch die nächsten Monate kommen, müssten jetzt alle Länder an einem Strang ziehen. Im Prinzip müssten alle Länder jetzt ähnliche Massnahmen ergreifen, um das Virus einzudämmen. Ganz Europa bräuchte einen koordinierten Lockdown.

Der Basler Biophysiker Richard Neher hat gesagt, es sei schon zu spät, das Virus so wie in Asien zu eliminieren.
Von der Elimination sind wir tatsächlich sehr weit entfernt – aber eine niedrige Inzidenz in Europa könnte uns wieder die Kontrolle ermöglichen. Die Einreise aus anderen Regionen müsste man aber dann besser kontrollieren. Etwa mit einem Test am Flughafen, fünf Tagen Quarantäne und dann einem weiteren Test. Haben wir es bei uns unter Kontrolle, können wir auch alles kontrollieren, was von aussen kommt.

Wie sehr hilft uns der neue Corona-Impfstoff dabei?
Weil wir nicht genug Impfstoff haben, können wir erst mal nur die Risikogruppen relativ gut schützen. Das entlastet auch die Intensivstationen. Ich sorge mich aber auch um das, was zwischen Leben und Sterben passiert.

Sie sprechen von «Long Covid» – den Langzeitfolgen?
Ja, diese Gesundheitsschäden sehen wir auch bei jungen, sportlichen Menschen: am Hirn und am Herz etwa. Viele brauchen Wochen oder Monate, um wieder auf den Damm zu kommen. Diese Gruppen erreichen wir mit dem Impfstoff erst mal nicht. Lockern wir trotzdem die Massnahmen, werden wir sehr viele Infektionen bei den jungen Leuten haben. Dann sehen wir diese seltenen schweren Komplikationen bei den Jungen noch viel häufiger.

Können Geimpfte das Virus noch übertragen?
Das weiss man noch nicht, weil die Studien nicht darauf ausgelegt waren. Dabei ist es eine extrem wichtige Information für die Corona-Strategie. Kann man die Virusvermehrung bei einem Geimpften komplett verhindern, hätte man wirklich eine Chance, das Virus wie die Pocken auszurotten.

Sie haben auf den Familienbesuch zu Weihnachten verzichtet. Gab es in diesem Jahr etwas, was Sie gegen die Vernunft gemacht haben?
Eigentlich nicht. Im Freundes- und Familienkreis bin ich diejenige, die am strengsten ist, nachdem ich im Frühjahr unsere Corona-Intensivstation besucht habe. Diese vielen Patienten zu sehen, die da alle auf dem Bauch liegen, beatmet wurden und teilweise auch gar nicht so alt waren. Da wusste ich: Ich will dieses Virus auf keinen Fall kriegen. Die Party zu meinem 40. Geburtstag habe ich ausfallen lassen. Dieses Jahr hake ich einfach ab und hoffe auf den Sommer 2021.

Sind wir Corona bis dahin los?
Ich glaube nicht, aber im Sommer ist einfach mehr möglich. Man kann sich draussen treffen, ein Picknick machen oder wandern gehen. Und ich hoffe sehr, dass wir die Fallzahlen so weit unter Kontrolle bekommen, dass man sogar wieder unkompliziert reisen kann. Ich möchte meine Familie und meine Freunde in Deutschland besuchen.

350 Wissenschafter fordern gemeinsames Vorgehen

Isabella Eckerle ist nicht allein. Über 350 Wissenschafterinnen und Wissenschafter aus ganz Europa rufen zu einer koordinierten Antwort auf die Pandemie auf. «Um einen Pingpong-Effekt von importierten und reimportierten Covid-19-Infektionen zu vermeiden, sollten die Bemühungen um niedrige Fallzahlen in allen europäischen Ländern synchronisiert sein und so schnell wie möglich beginnen», schreiben sie in einem Appell, der in der medizinischen Fachzeitschrift «The Lancet» publiziert wurde.

Aus der Schweiz haben neun Forscher den Appell unterschrieben, darunter der ehemalige Präsident der wissenschaftlichen Task-Force des Bundes, Matthias Egger, vier weitere Task-Force-Mitglieder sowie die Genfer Virologin Isabella Eckerle.

Die Autoren streben in ihrem Appell einen Richtwert von maximal zehn neuen Covid-19-Fällen pro eine Million Menschen pro Tag an. Zurzeit liegt dieser Wert in der Schweiz bei gegen 600.

Mit raschen, harten Massnahmen sei dies bis spätestens im Frühjahr 2021 machbar, sind sie überzeugt. «Das sollte eine einmalige Sache sein, unser letzter Lockdown», sagt die polnische Mitautorin Ewa Szczurek. (gf)

Isabella Eckerle ist nicht allein. Über 350 Wissenschafterinnen und Wissenschafter aus ganz Europa rufen zu einer koordinierten Antwort auf die Pandemie auf. «Um einen Pingpong-Effekt von importierten und reimportierten Covid-19-Infektionen zu vermeiden, sollten die Bemühungen um niedrige Fallzahlen in allen europäischen Ländern synchronisiert sein und so schnell wie möglich beginnen», schreiben sie in einem Appell, der in der medizinischen Fachzeitschrift «The Lancet» publiziert wurde.

Aus der Schweiz haben neun Forscher den Appell unterschrieben, darunter der ehemalige Präsident der wissenschaftlichen Task-Force des Bundes, Matthias Egger, vier weitere Task-Force-Mitglieder sowie die Genfer Virologin Isabella Eckerle.

Die Autoren streben in ihrem Appell einen Richtwert von maximal zehn neuen Covid-19-Fällen pro eine Million Menschen pro Tag an. Zurzeit liegt dieser Wert in der Schweiz bei gegen 600.

Mit raschen, harten Massnahmen sei dies bis spätestens im Frühjahr 2021 machbar, sind sie überzeugt. «Das sollte eine einmalige Sache sein, unser letzter Lockdown», sagt die polnische Mitautorin Ewa Szczurek. (gf)

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Zur Person

Die Virologin Isabella Eckerle (40) gehört zu den wichtigsten Schweizer Stimmen in der Corona-Krise, auf Twitter folgen der Wissenschaftlerin mehr als 33'000 Menschen. Seit 2018 leitet die in Deutschland geborene Eckerle die Abteilung Infektionskrankheiten an den Universitätskliniken in Genf und forscht dort zur Entwicklung von Zelllinien. In der Pandemie untersucht sie die Rolle von Kindern.

Keystone

Die Virologin Isabella Eckerle (40) gehört zu den wichtigsten Schweizer Stimmen in der Corona-Krise, auf Twitter folgen der Wissenschaftlerin mehr als 33'000 Menschen. Seit 2018 leitet die in Deutschland geborene Eckerle die Abteilung Infektionskrankheiten an den Universitätskliniken in Genf und forscht dort zur Entwicklung von Zelllinien. In der Pandemie untersucht sie die Rolle von Kindern.

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