Zwischen Lebenretten und Langeweile
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Unterwegs mit der Air Zermatt
Zwischen Lebenretten und Langeweile

Deutlich weniger Einsätze, trotzdem volle Konzentration: Der Beruf der fliegenden Bergretter ist in Corona-Zeiten nicht anspruchsloser geworden. Ein Ortstermin.
Publiziert: 14.02.2021 um 09:41 Uhr
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Aktualisiert: 22.03.2021 um 15:16 Uhr
Sven Ziegler (Text) und Nathalie Taiana (Fotos)

Kurz nach Mittag macht ein Funkspruch die gemütliche Atmosphäre auf der Helikopterbasis zunichte: «Skiunfall in Saas-Fee, vermutlich Oberschenkelfraktur. Einsatz für Susi!»

Air-Zermatt-Pilot Gerold Biner (57) schmunzelt. Sein Teller ist noch voll, gerade zwei Kartoffeln von seinem Mittagessen hat er geschafft ...

Doch die Rettung geht vor. In Sekunden ist die dreiköpfige Crew auf dem Weg zum Helikopter. Der Arzt Axel Mann (67) macht die Ausrüstung bereit, Rettungssanitäter Patrick Wenger (37) überwacht das An­lassen des Helikopters. Knapp zwei Minuten nach dem Empfang des Funkspruchs hebt der Heli ab.

Bei der Air Zermatt läuft derzeit sehr wenig.
Foto: Nathalie Taiana
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50 Prozent weniger Einsätze

Pilot Biner braucht kein Navi und keine Karte. Routiniert steuert er durch das Tal, schwenkt Richtung ­Mittelallalin ab. «Mal schauen, ob wir links durchkönnen, aber es scheint zu viele Wolken zu haben.»

Mit seinen Kollegen entscheidet ­Biner, das Risiko nicht einzugehen. Er fliegt rechts am Gipfel vorbei. Sein Gefühl täuscht ihn nicht. «Durch diese Wolkenbank wären wir nicht durchgekommen», meint er mit einem Blick auf das dichte Grau.

Für die dreiköpfige Crew ist es der dritte Einsatz an diesem sonst himmelblauen Tag, dabei sind nur wenige Skifahrer unterwegs. Das Coronavirus lässt auch den Tourismus einbrechen. «Wir haben mehr als 50 Prozent weniger Einsätze diesen Winter», sagt ­Biner. Und, dass die beiden Einsätze am Morgen «nichts Dramatisches» waren: eine Rückenverletzung, ein Bänderriss.

Zurück in der Kurzarbeit

Normalerweise sind zu dieser Jahreszeit drei Rettungshelikopter im Einsatz, teilweise pausenlos von morgens bis abends. Biner: «Dieses Jahr haben wir uns entschieden, den dritten nach Neujahr wieder um­zurüsten – er wird einfach nicht gebraucht.»

Auch das Rundfluggeschäft ist eingebrochen. Zwar flogen zwei Air-Zermatt-Helis zwei Stunden lang Passagiere durch die Walliser Bergwelt, aber dann war Ruhe. «Es ist einfach nichts los», bedauern die Piloten. Sie seien froh, weniger Rettungseinsätze zu haben. «Aber wir würden gerne fliegen. Das ist unser ­Beruf, unsere Leidenschaft.» Mit den ausbleibenden Rundflügen ist die grösste Einnahmequelle versiegt. Kurz vor Jahresende musste Biner, der auch den ­V­orsitz der Geschäfts­leitung hat, bekannt geben, dass Air Zermatt ihre 75 Mitarbeitenden wieder in Kurzarbeit versetzen muss.

In Saas-Fee VS überfliegt das Trio jetzt das Skigebiet, funkt die zuständige Pistenpatrouille an. «Beim dritten Mast rechts, direkt an der Piste.» Der Verletzte liegt in einem Steilhang, eine Landung ist unmöglich. Die Crew entscheidet sich, den Arzt per Winde abzuseilen und an einer flacheren Stelle zu landen. Während Axel Mann am Seil dem Boden entgegenschwebt, lässt sich Biner von ihm einweisen: «Einen Meter nach rechts, nach oben, stopp!» Mit akribischer Präzision hält der Pilot den Helikopter dort, bis der Mediziner bei dem Verletzten angekommen ist. Erst auf ein Zeichen Manns zieht Biner die Maschine hoch und landet bei der Bergstation.

Direkt in die Notfallaufnahme

«Wir funktionieren nur als Team. Das hat sich über Jahre, teilweise sogar Jahrzehnte eingespielt. Wenn man gemeinsam Extrem­situationen erlebt, dann schweisst das zusammen», sagt Rettungssanitäter Wenger. «Wir sind eine kleine ­Familie, eine klassische Arbeitsbeziehung funktioniert in diesem Job nicht. Wir sind teils sogar privat eng befreundet.»

Ein Funkspruch unterbricht ihn: «Gerold, wir sind bereit!» Der Helikopter hebt ab, fliegt zurück zu Arzt Axel Mann, der den Patienten für den Transport bereit gemacht hat. Weil Biner nicht landen kann, wird der Verunfallte mit Mann am Seil ins Tal geflogen und bei einer Zwischenlandung an der Talstation eingeladen.

Von all dem bekommt das Unfall­opfer nichts mit: «Der Patient hatte sehr starke Schmerzen im Bereich der Hüfte. Für die schonende Bergung habe ich ihn mit Schmerz- und Beruhigungsmitteln kurz narkotisiert», sagt Mann. Von der Talstation aus geht der Flug weiter zum Spital Visp. Unterwegs funkt die Crew an die Kantonale Walliser Rettungs­organisation, die den Rettungseinsatz koordiniert und den Verletzten im Spital anmeldet. Direkt nach der Landung machen sich die Crew und der Patient auf den Weg in Richtung Notfallaufnahme.

«Wir wollen wieder mehr fliegen»

Dann geht alles ganz schnell: Während Mann den zuständigen Arzt informiert, schneiden Pflegekräfte dem Unfallopfer die Kleider vom Leib: «Die kommen nachher in die Tonne. Für ein zärtliches Ausziehen ist hier keine Zeit», meint eine Pflegerin lachend. Nach einer ersten Untersuchung geht die Crew zum Helikopter zurück. Axel Mann verabschiedet sich vom zuständigen Arzt: «Gibst du mir noch Bescheid, was er genau hat?» Später wird klar, dass sich der Mann bei seinem Sturz eine komplizierte Hüftfraktur zugezogen hat.

Neun Mal werden die beiden ­Helikopter am Ende des Tages ausgerückt sein – normalerweise fliegen sie zu dieser Jahreszeit 20 bis 30 Einsätze täglich. Daher ist die Debatte um eine Schliessung der Skigebiete aus Biners Sicht fehl am Platz. «Wir haben genügend ­Kapazitäten in den Spitälern, und wenn dem nicht mehr so sein sollte, ist Zermatt der erste Ort, der eine Schliessung befürwortet.»

Der erfahrene Pilot hofft, dass die Pandemie möglichst bald der Vergangenheit angehört – und dass auf der Air-Zermatt-Basis wieder mehr los ist: «Wir wollen nicht mehr Unfälle, natürlich nicht. Aber wir wollen, dass das Geschäft wieder läuft. Und vor allem: wieder mehr fliegen!»

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