Tim Guldimann, Schweizer Botschafter in Berlin
«Die Schweiz leidet an Heimatverlust»

Tim Guldimann, der scheidende Schweizer Botschafter in Berlin, über das Verhältnis zur EU, die SVP und seine Kandidatur für den Nationalrat.
Publiziert: 25.05.2015 um 19:28 Uhr
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Aktualisiert: 30.09.2018 um 20:48 Uhr
«Die Deutschen verstehen unsere Kulturgrenze nicht richtig.» Tim Guldimann
Foto: Marcus Höhn
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Von René Lüchinger (Interview) und Markus Höhn (Foto)

BLICK: Herr Guldimann, wir sitzen in der Schweizer Botschaft in Berlin, Sie haben eben vor Mitgliedern des Bundestags über die direkte Demokratie referiert. Ist das einfach Werbung für unser Land oder steckt mehr dahinter?
Tim Guldimann:
Werbung ist gut für Schweizer Käse, nicht für die Schweiz. Deutsche Politiker interessieren sich für ihre Prob­leme, aber an sich nicht für unser Land. In Deutschland gibt es Politikverdrossenheit. Nach Umfragen möchte die Mehrheit selbst an Entscheiden teilnehmen, wie bei uns. Die SPD wollte dafür das Gesetzesreferendum auf Bundesebene einführen. Auch andere Parteien interessieren sich für unsere Erfahrungen. Mit diesem Thema können wir deutschen Politikern die Schweiz näherbringen.

Hat das auch mit dem Gefühl vieler Menschen zu tun, dass die EU ein technokratisches Gebilde ist, weit weg vom Bürger?
Ja, das ist ein Aspekt des Unbehagens. Gleichzeitig wehren sich aber auch das deutsche Parlament und die 16 Bundesländer gegen EU-Institutionen, um ihre Zuständigkeiten zu verteidigen. Dabei hilft ihnen das Bundesverfassungsgericht.

In Deutschland hat die politische Elite immer auch eine gewisse Skepsis gegenüber dem Volk. Dies hat mit der Geschichte des Landes zu tun. Ist das überwunden?
Den Glauben daran, wie bei uns, dass das Volk immer recht hat, gibt es in Deutschland so nicht. Dafür sind die historischen Gründe gar nicht mehr so wichtig. Bundespräsident Joachim Gauck sagte bei seinem Besuch in Bern vor einem Jahr, er sei früher auch für direktdemokratische Entscheide eingestanden, sei jetzt aber klar für den Parlamentarismus. Nicht aus Misstrauen gegenüber dem Volk, sondern aus grundsätzlichen Erwägungen. Andere sind da offener. Bei den Linken gab es einmal ein Plakat: «Mehr Schweiz wagen – direkte Demokratie».

Ende Monat verlassen Sie altershalber nach fünf Jahren die Botschaft in Berlin. Wie hat sich in dieser Zeit das Verhältnis beider Länder verändert?
In Deutschland geniesst unser Land nach wie vor ein unverwüstliches Wohlwollen. Von der Schweiz aus hat sich das Verhältnis sicher etwas normalisiert. Es ist erlaubt, sich über deutsche Fussballsiege zu freuen. Gleichzeitig gibt es ein Unbehagen wegen der Einwanderung, die stark zugenommen hat. Mit rund 300 000 Deutschen sind es gleich viele wie die italienische Kolonie. Vergessen wir nicht: 1912 lebten in der Schweiz bei halb so vielen Einwohnern wie heute 220 000 Deutsche.

Heute gibt es eine Rückkehrbewegung von Deutschen. Viele fragen sich nach der Abstimmung über die Masseneinwanderung: Sind wir noch willkommen?
Ein deutscher Headhunter hat mir unlängst erzählt, er könne jetzt wieder deutsche Kader aus der Schweiz zurückholen, selbst bei einem tieferen Lohn. Der Grund liege darin, dass sich deren Familien bei uns nicht richtig aufgenommen fühlen.

Genügt das als Erklärung?
Die Deutschen verstehen un­sere Kulturgrenze nicht richtig. Sie wundern sich, dass wir zwar fast die gleiche Sprache sprechen – nur langsamer –, dass sie sich aber trotzdem nicht so richtig zu Hause fühlen dürfen. Wir Schweizer hingegen haben uns durch die Geschichte langsam als Willensnation vor allem dadurch zusammengefunden, dass wir Deutschschweizer uns von den Deutschen abgegrenzt haben. In der französischen Schweiz ist das Verhältnis zu Frankreich entspannter.

Die Abgrenzung des Kleinen gegen den Grossen ist Teil unserer DNA seit der Staatsgründung von 1848.
Relativ klein fühlte sich die Schweiz erst in den 1870er-Jahren, als sich Italien und Deutschland zu Nationen zusammenschlossen. Seither haben wir daraus eine Ideologie gemacht, um unsere aussenpolitische Abstinenz zu rechtfer­tigen. Der Kleinstaat ist zur Lebenslüge der Nation geworden. Punkto Bevölkerung stehen wir im Vergleich mit anderen Ländern ziemlich genau in der Mitte. Dabei gehört unser Land zu den zehn Prozent an der Spitze der weltweit wichtigsten Wirtschaftsnationen. Unter den 28 EU-Staaten gibt es nur sechs mit einem höheren Sozialprodukt.

Wollen die Deutschen, dass wir der EU beitreten?
Ich muss immer wieder gegenüber drei Positionen unsere Haltung klarstellen: Erstens möchte vor allem die Regierung – wenn auch in vollem Respekt vor unserer Haltung –, dass wir beitreten. Wir wären in vielen Fragen ein willkommener Allianzpartner. Zwei­tens gibt es auch den wachsenden Vorwurf, dass wir als Rosinenpicker nicht solidarisch seien. Diesen Vorwurf müssen wir uns nicht gefallen lassen, solange wir uns an die Verträge halten. Drittens gibt es jene, die uns beglückwünschen, draussen zu bleiben. Nur: Von denen können wir keine Hilfe erwarten, um unsere Probleme mit Brüssel zu lösen.

Die Deutschen haben vor allem ein Problem mit unserer Beschränkung der Einwanderung.
Richtig, die Personenfreizügigkeit gehört zum «Allerheiligsten» der EU, wie mir kürzlich ein Europa-Parlamentarier sagte. Die Haltung zu unserer Absicht, diese zu beschränken oder aufzuheben, ist klar. Je ehrlicher der Gesprächspartner, desto deutlicher die Ansage: Wenn ihr euch am Binnenmarkt beteiligen wollt, gibts keine Extrawurst. In der Schweiz machen wir uns da Illusionen.

Illusionen, dass man irgendwie die Extrawurst doch noch bekommt?
Ja. Nach dem Motto: Die Deutschen haben uns ja immer geholfen, sie werden es auch jetzt tun. Dabei geht es gar nicht um uns, sondern um innen- und EU-politische Gründe. Ein führender deutscher Aussenpolitiker hat mir gesagt, sie bräuchten innenpolitisch eine Feuerwand gegen eine Ausländerdiskussion von rechts, die durch Zugeständnisse an die Schweiz provoziert würde. Ebenso hat Bundeskanzlerin Merkel dem britischen Premier Cameron eine klare Absage für dessen Wunsch erteilt, an der Personenfreizügigkeit zu rütteln. London würde sich freuen, wenn Brüssel der Schweiz nachgäbe. Brüssel weigert sich aber, darüber mit uns überhaupt zu verhandeln.

Was ist eigentlich los in der Schweiz? Wir waren ja stets sehr pragmatisch. Seit einigen Jahren kommen immer extremere Initiativen an die Urne: Minarett, Masseneinwanderung, Ecopop, Grundeinkommen für alle. Läuft da etwas fundamental schief?
Wenn eine Mehrheit – auch wenn sie knapp ist – einer solchen Initiative zustimmt, haben wir ein Problem. Das Resultat darf man nicht einfach als Rechtspopulismus oder Fremdenfeindlichkeit abtun. Vielmehr hat die Mehrheit in einer sehr sensiblen Frage das Vertrauen in die Obrigkeit verloren. Tatsache ist, dass wir im Vergleich zu Deutschland einen dreimal höheren Anteil von Ausländern und in den letzten Jahren eine doppelt so hohe Zuwanderung haben.

Zahlen sind abstrakt. Die Reaktion an der Urne war aber wohl eher eine emotionale.
Ja, es war ein Bauchentscheid. Viele haben etwas empfunden, das ich als Heimatverlust bezeichnen würde. Die Einwanderung hat die Lebenswelt verändert. Die Politik hat darauf nicht reagiert, die Zuwanderung wurde massiv unterschätzt. Früher hat die Immigration aus Südeuropa den Schweizern den sozialen Aufstieg erlaubt, heute sind die Zuwanderer Fachkräfte und Akademiker, die als Konkurrenten um gute Jobs und Wohnungen empfunden werden. Globalisierungsverlierer gibt es anderswo auch, nur haben sie bei uns einen Adressaten: die EU und die bilateralen Verträge. Und sie haben ein Instrument: die direkte Demokratie.

Hat die Rechte einfach das richtige Thema gesehen und es bespielt, oder ist es auch die Passivität der anderen politischen Parteien?
Es geht nicht um Schuldzuweisung, sondern darum, das Problem zu lösen und rasch einen Ausweg zu finden. Wenn wir bis Anfang 2017 den neuen Zuwanderungsartikel in der Verfassung nicht ersetzen können, hat der Bundesrat den Verfassungsbefehl, die Initiative umzusetzen. Das hätte – selbst wenn Brüssel die Guillotine nicht sofort gegen die anderen bilateralen Verträge einsetzt – drei fatale Folgen. Die Verunsicherung ausländischer und schweizerischer Investoren, die nicht mehr wissen, ob wir im Binnenmarkt bleiben. Zweitens Rekrutierungsprobleme für den Zuzug ausländischer Spitzenkräfte, die uns bisher die Innovation gesichert haben. Und drittens bliebe die Lösung anstehender Probleme im Verhältnis zur EU blockiert.

Stellen Sie den Volks­willen in Frage?
Nein, wir brauchen einen neuen Konsens, um das Problem zu lösen. Aber ja, ich kritisiere die Verabsolutierung des Volkswillens in der innenpolitischen Debatte, wenn damit rechtsstaat­liche und völkerrechtliche Prinzipien in Frage gestellt werden.

Die Überhöhung des Volkswillens ist ein neues Phänomen. Ist dies politisches Kalkül, um Rahmenbedingungen zu verändern, zum Beispiel die europäische Menschenrechtskonvention aufzukündigen?
Der neue Populismus ist nicht nur ein Problem der politischen Rechten. Die Ecopop-Initiative bekam ja auch Zuspruch von links-grünen Fundis. Die Frage, die sich für mich stellt, ist: Sind die sozialen und liberalen Kräfte im Land bereit, die rechtsstaatlichen Prinzipien und die Grundlagen unseres Wohlstandes zu verteidigen, um damit die Zukunft einer weltoffenen, innovativen Schweiz zu sichern? Dafür müssen wir unser bilaterales Verhältnis mit Brüssel umfassend regeln und die Verlässlichkeit der Schweiz als Vertragspartner und Investitionsstandort wiederherstellen. Dazu braucht es einen innenpolitischen Konsens und natürlich endlich Mass­nahmen, um das inländische Arbeitskräftepotenzial besser zu mobilisieren. Wenn wir den Bruch mit der EU vermei­den wollen, müssen wir die Zu­wanderung eindämmen, ohne die Freizügigkeit aufzuheben. Wenn das gelingt, braucht es die Ansage an den Rechtspopulismus: Bis hier und nicht weiter.

Fehlt in der Schweiz diese Abgrenzung nach rechts?
Ich kann nur feststellen, dass sich die politische Mitte in Deutschland oder Frankreich gegenüber dem Front National oder der europakritischen AfD klar abgrenzt. Mit denen spricht man nicht. Vergleichbares gibt es in der Schweiz nicht.

Wie erklären Sie sich, dass die Rechte allgemeingültige Rechtsgrundsätze aufgeben will – im Wissen, dass sich unser Land damit enorme internationale Probleme einhandeln würde?
Ich nehme an, dass es einige Personen in der SVP gab, die sich am Abend des 9. Februar 2014 gar nicht gefreut haben, weil sich ja die Frage aufdrängte: Wer übernimmt jetzt die Verantwortung? Christoph Blocher behauptete, dass nun die EU Bittstellerin gegenüber der Schweiz sei. Wäre dem so, hätten wir heute ein Verhandlungsmandat des EU-Ministerrates, um das Abkommen zur Personenfreizügigkeit zu revidieren.

Was müsste die Schweiz nun tun?
Wie gesagt, wir müssen unsere Beteiligung am Binnenmarkt sichern und die Verlässlichkeit der Schweiz wiederherstellen. Aus meiner Sicht kann das nur mit einer umfassenden Lösung für unsere Beziehungen mit der EU geschehen. Dabei müssen wir auch die institutionellen Probleme lösen. Wenn wir dazu bereit sind, könnten wir dafür auf eine Verhandlungsbereitschaft der EU zählen, die bis heute für Verhandlungen allein über die Personenfreizügigkeit nicht bereit ist.

Heisst das, eine Abstimmung über die Bilateralen zu lancieren?
Das wird sicher nicht ohne eine weitere Abstimmung möglich sein. Die Frage, die sich mir als Staatsbürger stellt, ist, ob damit allenfalls ein Auftrag an den Bundesrat für die Aushandlung dieser umfassenden Lösung in Form eines neuen Verfassungsartikels formuliert werden könnte. Damit könnte noch rechtzeitig vor dem Februar 2017 der neue Zuwanderungsartikel 121a in der Verfassung ersetzt werden.

Im Raum steht ja auch, dass wir Schweizer Recht opfern und dafür europäisches Recht übernehmen müssen. Ein Problem für Sie?
Für mich persönlich nicht. Wir überschätzen in der Europa-Diskussion die Souveränitätsfrage. Wir geben schon heute viel mehr Souveränität auf, als wir uns politisch eingestehen. Das nennen wir autonomen Nachvollzug. Es geht aber nicht um Autonomie, es sind nicht unsere Gesetze, sondern es sind fremde Gesetze, die wir ständig übernehmen. Durch unsere Beteiligung am Binnenmarkt geben wir tatsächlich einen Teil unserer Souveränität auf. Das ist der Preis für den Vorteil des Zugangs zum europäischen Markt.

Sie wollen jetzt in die Politik, die Zürcher SP soll Sie am Samstag als Nationalratskandidat aufstellen. Der Weltbürger Guldimann in der Berner Provinz. Warum das?
Zürich, Bern und überhaupt die Schweiz sind nicht Provinz, sondern meine Heimat. Es ist für mich auch eine Rückkehr, auch wenn ich in Berlin bleibe und als Auslandschweizer kandidieren möchte. Ich sehe von aussen die grossen Qualitäten unseres Landes, aber auch die enormen Schwierigkeiten, mit denen wir in Zukunft in Europa konfrontiert sind. Ich hoffe, meine internationalen Erfahrungen in die innenpolitische Diskussion einbringen zu können. Gleichzeitig verstehe ich mich als Stimme der 750 000 Auslandschweizer und Auslandschweizerinnen, die einen Anspruch haben, in der Politik besser vertreten zu sein.

Kritisiert wird, dass Sie ökologisch fragwürdig von Berlin zu den Sitzungen nach Bern fliegen wollen.
Fliegen ist ökologisch prob­lematisch, dessen bin ich mir bewusst. Will ich mich als Auslandschweizer in der Innenpolitik engagieren, muss ich reisen, per Flugzeug oder Bahn. Mit meinem Öko-Gewissen kann ich dann halt nicht so gut schlafen – öfters auch im Nachtzug.

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