Das sagt Fedpol zur Täterin
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Messerattacke in Lugano TI:Das sagt Fedpol zur Täterin

So tickt die Attentäterin von Lugano
Jessica M. ist psychisch krank, von der Familie isoliert und im IS-Wahn

Wer ist die Frau mit dem Messer? Gleich nach dem Angriff auf zwei Kundinnen im Kaufhaus Manor ist ihre Identität geklärt: Jessica M.* (28) ist Tessinerin und IS-Braut. Aber auch ihre manischen Depressionen sind bei Fedpol und Kapo aktenkundig.
Publiziert: 25.11.2020 um 17:56 Uhr
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Aktualisiert: 26.11.2020 um 09:18 Uhr
Myrte Müller, Beat Michel

Es sind grundverschiedene Welten. Da ist der stille Alltag. Das rosa Mehrfamilienhaus in Vezia TI. Ihre Wohnung mit Balkon für die Zigarettenpause. «Merkwürdig war das Mädchen schon», sagt eine Nachbarin zu BLICK. Aber: «Freundlich, halt immer mit dem Kopf in den Wolken.» Nie habe Jessica M.* (28) Besuch erhalten. Auch von der Mutter nicht. Verschlossen sei sie gewesen und stets dunkel gekleidet. Von ihrer Familie erzählte sie kaum. Freunde scheint sie keine zu haben. Weil sie so dünn war, habe sie, die Nachbarin, der jungen, scheuen Frau schon mal einen Kuchen gebracht.

Dann, am Dienstagabend gegen 18 Uhr tauchen Beamte der Fedpol im rosa Wohnblock auf. Nur Stunden nach dem Attentat. Sie klingeln bei den Nachbarn, stellen Fragen. Das zierliche, blasse Mädchen von nebenan erhält nun ein ganz anderes Gesicht. «Jetzt haben wir richtig Angst», sagt die Anwohnerin weiter.

Das andere Gesicht der finsteren Welt

Dieses andere Gesicht gehört zu einer finsteren Welt. Es zeigt sich am Dienstag, dem 24. November, kurz vor 14 Uhr in Lugano TI. Jessica M. betritt die Manor-Filiale an der Piazza Dante. Sie nimmt sich in der Haushaltswaren-Abteilung ein grosses Messer, begibt sich in die Multimedia-Etage darüber. Wahllos peilt sie ihr erstes Opfer an, würgt die ahnungslose Frau. Dann stürzt sich Jessica M. auf eine andere Kundin, versucht, diese zu enthaupten. Beim Angriff habe die Tessinerin «Allahu Akbar» gerufen und sich zum IS bekannt, heisst es.

Bis in die Nacht hinein wurde der Tatort im letzten Stockwerk der Manor-Filiale nach Spuren abgesucht und Zeugen befragt.
Foto: keystone-sda.ch
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«Ich war gerade in den Manor gegangen, hörte einen dumpfen Schlag hinter mir. Ich habe mich umgedreht und sah eine Frau am Boden liegen. Über ihr eine andere mit einem Fleischermesser. Das Preisschild war noch dran. Die Frau, die unten lag, schrie. «Sie blutete stark», erzählt eine Augenzeugin dem Schweizer Fernsehen RSI. Die Wunde des Opfers ging quer über den ganzen Hals. «Es war grauenhaft», so die Zeugin weiter.

Manche Anwesenden reagieren geistesgegenwärtig. Während ein paar sich auf die Attentäterin stürzen, sie an den Haaren packen und festhalten, holen andere Handtücher und drücken sie auf die klaffende Wunde des Opfers. Die junge, schwer verletzte Frau wird gerettet. Dank der Zivilcourage konnte auch die Attentäterin verhaftet werden.

Fedpol und Bundesanwaltschaft übernehmen den Fall Jessica M.

Schnell steht die Identität fest. Jessica M. ist aktenkundig. Sie gilt schon seit Jahren als radikalisiert, verkehrt offenbar in der islamistischen Szene Luganos. Fortan ist das Attentat ein Fall für die Bundesbehörden. Die Bundesanwaltschaft (BA) hat ein Strafverfahren eröffnet, unter anderem wegen Verdacht auf versuchte vorsätzliche Tötung, schwere Körperverletzung und verbotene Zugehörigkeit zu den Gruppierungen Al Kaida und Islamischer Staat.

Fedpol und BA ermittelten bereits 2017 gegen die junge Frau. Jessica M. habe sich über soziale Medien in einen IS-Krieger verliebt und versucht, über die Türkei nach Syrien zu gelangen. Wie die Fedpol weiter erklärt, sei Jessica M. an der Grenze festgehalten und in die Schweiz zurückgebracht worden. Was dann folgt, ist die Welt des Wahns.

Jessica M. ist bei der Heimkehr geistig verwirrt und wird in eine psychiatrische Klinik eingewiesen. Sie leide an manischer Depression, heisst es aus Insider-Kreisen. Es wird nicht ihr einziger Klinikaufenthalt sein. Auch das ist den Behörden seit 2017 bekannt. Einsamkeit, Extremismus, Depressionen – ein mörderischer Cocktail.

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«Viele radikalisierte Menschen haben psychische Probleme»

Der Islamismus-Experte Stefano Piazza erkennt ein Muster: «Radikalisierten Menschen brechen an einem bestimmten Punkt ihres Lebens alle Brücken hinter sich ab. Aus Liebeskummer, aus beruflicher Enttäuschung, weil sich die Eltern scheiden lassen. Viele haben auch psychische Probleme, explodieren geradezu bei seelischem Stress.» Piazza weiss: «Sie sind die perfekten Zielpersonen für jene, die sie indoktrinieren und zu Gewalttaten drängen, indem sie Verständnis zeigen und ihnen, die Ausgrenzung erleben, die Illusion geben, im Mittelpunkt des Universums zu stehen.»

Der Experte mahnt: «Es fehlen Bewusstsein und politischer Wille, die fundamental sind, um solchen Phänomenen zu begegnen. Was in Lugano und auch schon im vergangenen September in Morges VD geschah, ist besorgniserregend. In beiden Fällen waren die Täter bekannt – und auch ihre Gefährlichkeit. Dennoch liefen sie frei herum. Warum?»

Onkel: «Ich dachte, sie sei auf einem guten Weg»

Diese Frage stellt sich auch Jessicas Familie. In einer Mitteilung an die Medien erklären die Angehörigen, nichts vom Vorfall gewusst zu haben und über die Medien darüber informiert worden zu sein. Sie fühlten sich mit den Opfern solidarisch und wünschten ihnen eine gute Genesung.

Der Onkel von Jessica M. lebt in Ebikon LU – auch er kann sich die Tat nicht erklären: «Klar, wir wussten von ihren psychischen Problemen. Aber ich hätte nie gedacht, dass sie zu so etwas fähig ist.» Seine Nichte sei eine sehr zierliche Person: «Sie wiegt nicht mehr als 40 Kilo.» Im Sommer sah er sie das letzte Mal: «Sie wirkte gefasst, ich dachte noch, dass sie auf einem guten Weg sei.» Ein Trugschluss, wie der Onkel seit Dienstag weiss.

*Name geändert

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