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Studie zu Ukraine-Gastfamilien
Sie wurden zur zweiten Familie – und waren selbst überfordert

Gastfamilien halfen Ukraine-Geflüchteten, ihre Kinder einzuschulen, Jobs zu finden, Fuss zu fassen – in einer neuen Studie kritisiert aber jeder und jede Vierte fehlende Hilfe von Gemeinden und Kantonen.
Publiziert: 14.01.2024 um 00:06 Uhr
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Aktualisiert: 14.01.2024 um 11:42 Uhr
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Vanessa MistricRedaktorin

Eine Schweizerin beschreibt, was ihr eines Nachts durch den Kopf ging: «Wenn sie stirbt, bin ich schuld!»

In ihrer Wohnung kämpfte damals eine über 70-jährige Ukrainerin mit gesundheitlichen Problemen. Doch wegen der Sprachbarriere konnte sie nicht erklären, welche Medikamente sie benötigt.

Die Schweizerin gehört zu den etwa 30'000 Familien und Personen, die im Frühjahr 2022, kurz nach Kriegsbeginn, Geflüchtete aus der Ukraine privat aufnahmen. Sechs Monate lang kümmerte sie sich um die Ukrainerin.

Viele Schweizerinnen und Schweizer nahmen nach Kriegsbeginn im Frühjahr 2022 Geflüchtete aus der Ukraine bei sich zu Hause auf.
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Von den Schweizer Behörden fühlte sie sich im Stich gelassen. Ihr habe eine Ansprechperson in der Gemeinde gefehlt, wichtige Informationen habe sie vor allem im Chat mit anderen Gastfamilien erhalten.

In einer Umfrage der Berner Fachhochschule, der Hochschule Luzern und der Schweizerischen Flüchtlingshilfe bei mehr als 1000 Gastgeberinnen und Gastgebern kritisierte Ende 2022 ein Viertel der Teilnehmer fehlende Unterstützung durch den Staat. Zudem führten sie bis im März letzten Jahres 24 Interviews mit Geflüchteten und Gastfamilien.

Die Befragten gaben an, sie hätten bei den vielen Aufgaben, die auf sie und die Geflüchteten zugekommen seien, kaum Hilfe erhalten. Dabei ging es etwa um die Einschulung der Kinder, die Suche nach Sprachkursen oder um rechtliche Fragen. Viele fühlten sich auch nicht genügend auf den Umgang mit traumatisierten und teils sehr jungen Ukrainerinnen und Ukrainern vorbereitet. «Wir haben drei Monate Sozialarbeit geleistet, von den Behörden spüren wir kaum etwas», sagt einer.

Gastfamilien fördern die Integration

Ukrainerinnen ihrerseits schildern in Interviews, dass sie nach Kriegs- und Fluchterfahrungen ein Bedürfnis nach Ruhe hatten, was die Gastfamilien nicht immer nachvollziehen konnten. «Du willst nur unter einer Decke liegen, dich irgendwie erholen. Und am Ende lehnt man Angebote ab und verletzt die Gefühle der Person.»

Eveline Ammann Dula vom Departement Soziale Arbeit der Berner Fachhochschule und Co-Studienleiterin sagt: «Ruhe ist ein grosses Bedürfnis nach einer Flucht. Gastfamilien müssten angemessen geschult werden, damit sie wissen, wie sie mit den Belastungen umgehen können.»

Die Studie kommt aber auch zum Schluss, dass Gastfamilien die Integration fördern. Über die Hälfte stehe mit den Geflüchteten auch nach deren Auszug in Kontakt, oft seien Freundschaften entstanden.

Eine mit ihrem Kind aus der Ukraine geflüchtete Mutter, die sechs Monate bei einem Paar lebte, berichtet, wie sie sich fühlte, als sie die Zusage für eine eigene Wohnung erhielt: «Wir sagten: ‹Puh, endlich! Das müssen wir feiern. Aber auch: Wir werden euch vermissen.›» Die Mutter suchte sich eine Bleibe in der gleichen Stadt, um die Beziehung zur Gastfamilie und deren Nachbarn aufrechtzuerhalten.

Viele Gastgeberinnen und Gastgeber erzählten von regelmässigen Spieleabenden, Ausflügen und «Geschwisterbeziehungen» zwischen Kindern der Gastfamilien und geflüchteten Menschen. Die Gastfamilien hätten sie zudem bei der Wohnungssuche unterstützt oder Jobs vermittelt.

Studienleiterin Ammann Dula bilanziert: «Wenn die private Unterbringung Teil der Asylpolitik wird, muss diese durchgehend und professionell begleitet werden.» Essenziell seien auch genügend Privatsphäre und Rückzugsmöglichkeiten für alle Beteiligten.

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