Strafrechtsexpertin Brigitte Tag
«Opfer sind oft nicht in der Lage, Beweise zu sammeln»

Das Urteil im Sklavinnen-Fall von Moutier BE ist eindeutig: Freisprüche für die Angeklagten in allen schweren Anklagepunkten. Zwei Strafrechtsexperten ordnen ein.
Publiziert: 24.11.2022 um 19:35 Uhr
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Tobias OchsenbeinRedaktor Politik

Das Gericht in Moutier BE hat Patriarch Albrim F.* (65) und seine vier Söhne aus dem Balkan am Donnerstag teilweise zu bedingten Strafen verurteilt. Sie sollen ihre Frauen schlecht behandelt haben. Für eine Verurteilung wegen Menschenhandels reichten die Beweise allerdings nicht aus.

Man brauche solide Beweise, um Menschen hinter Gitter zu bringen, sagte Gerichtspräsident Josselin Richard bei der Bekanntgabe des Urteils. Das Gericht sei mit widersprüchlichen Aussagen konfrontiert worden – und zwar vonseiten der Angeklagten und der Opfer.

Im Zweifel für den Angeklagten

Darum liess das Gericht nach dem Grundsatz «im Zweifel für den Angeklagten» die schwersten Vorwürfe fallen. «Wenn die Beweise nicht zur Überzeugung des Gerichts erbracht werden können, gilt bei den Tatsachen: In dubio pro reo», erklärt Brigitte Tag, Professorin am Lehrstuhl für Strafrecht, Strafprozessrecht und Medizinrecht an der Universität Zürich.

Familienoberhaupt Albrim F. (65) sass mit seinen vier Söhnen auf der Anklagebank.
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Bloss: Was macht es für Opfer so schwierig, zu beweisen, was genau passiert ist? «In solchen Fällen werden die Opfer oft stark kontrolliert. Sie sind darum häufig nicht dazu in der Lage, Beweise zu sammeln. Oder: Die Täter und ihre Hilfspersonen vernichten die Beweise», sagt Tag.

Erschwerend komme hinzu, dass die Opfer oft Laien seien und sich nicht im Rechtssystem auskennen würden. «Sie können daher gar nicht wissen, was strafrechtlich relevant ist. Zudem fehlen oft Zeugen, oder sie werden entweder zum Schweigen gebracht oder befinden sich in einem Loyalitätskonflikt», führt die Strafrechtsexpertin weiter aus.

«Fälle extrem schwierig zu beurteilen»

Auch Stephan Schlegel, Fachanwalt für Strafrecht, sagt: «Das Problem bei solchen Fällen besteht oft darin, nachzuweisen, dass tatsächlich Menschenhandel stattgefunden hat. Denn der Tatbestand setzt voraus, dass die mutmasslichen Täter tatsächlich mit einer Person ‹handeln›. Beispielsweise, indem eine Person von jemandem gekauft, ihr der Pass weggenommen und sie gegen ihren Willen verschleppt wird.»

Es sei aber schwierig nachzuweisen, wenn bestimmte Dinge – wie in dem vorliegenden Familienkonstrukt – halb freiwillig passierten. Oder wenn die Familien der Opfer möglicherweise sogar Druck auf diese ausgeübt hätten. «Solche Fälle sind extrem schwierig zu beurteilen. Und offenbar konnte die Anklage hier nicht genügend Tatsachen für eine Verurteilung beweisen», sagt Schlegel.

Für eine Verurteilung brauche es darum eine glaubhafte Opfer-Aussage. Diese Darstellung müsse schliesslich einem Menschenhandel im gesetzlichen Sinn entsprechen. Denn: «Wenn ein Opfer eine solche glaubhafte Aussage macht, dann reicht das in der Regel aber auch, um eine angeklagte Person zu verurteilen.»

* Name geändert

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