«Wie ein Elefant auf der Lunge»
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Covid und die Langzeitfolgen:«Wie ein Elefant auf der Lunge»

So leiden Corona-Erkrankte an den Langzeitfolgen
«Wie ein Elefant auf der Lunge»

Corona-Patienten fühlen sich nach überstandener Infektion im Stich gelassen: «Long Covid» könnte zur neuen Volkskrankheit werden – mit Zehntausenden Betroffenen.
Publiziert: 31.01.2021 um 00:43 Uhr
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Aktualisiert: 31.01.2021 um 09:46 Uhr
Tobias Marti

Schon auf der Heimfahrt spürte Séverine Herrmann, dass etwas nicht in Ordnung war. Sie fühlte sich kraftlos und müde. Was sie zunächst aufs Segeln und all die anderen Aktivitäten zurückführte, die sie während ihrer Ostseereise unternommen hatte. Zwei Tage später klappte sie zusammen. Einfach so, in der Physiotherapie.

Herrmann ist 28 Jahre alt. Zweimal pro Woche geht sie joggen, zweimal ins Volleyballtraining. Kreislaufprobleme? So was kannte die junge Frau aus Kreuzlingen TG bisher nicht.

Es sollte noch schlimmer kommen: Bald litt sie an Fieber, ­Husten und Kopfweh – und erfuhr, dass mitgereiste Freunde positiv auf Corona getestet worden waren. Wenig überraschend: Der Test schlug auch bei ihr an.

Séverine Herrmann (28) spürt noch immer die Langzeitfolgen ihrer Covid-Erkrankung. Etwa beim Treppensteigen.
Foto: Siggi Bucher
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Das fürchterliche Ferienmitbringsel hat ihr Leben verändert. 22 Tage kämpfte sie in Isolation ­gegen das Virus, litt an Atemnot – mehrmals war sie kurz davor, die Ambulanz zu rufen.

«Es wurde nie wirklich gut»

Wochen nach ihrem Martyrium im Oktober erlitt sie einen Rückfall. «Es wurde nie wieder wirklich gut», sagt Herrmann heute, Mo­nate später. Steigt sie Treppen hoch, rast ihr Herz, geht es beim Spazieren leicht bergan, meldet sich die Atemnot, brennt die Lunge. Joggen, Velofahren, Volleyball –geht alles nicht mehr. Herrmann: «Als würde mir ein Elefant auf die Lunge trampeln.»

Höchstens leichtes Radeln mit Mutters E-Bike liegt noch drin. Immerhin kann die Bauingenieurin wieder ihrem Beruf nachgehen, ­allerdings nicht mehr Vollzeit.

Die Langzeitfolgen drücken ihr aufs Gemüt. «Ich fühle mich sehr hilflos. Und sehr allein. Es gibt in der Schweiz keine Anlaufstelle, an die ich mich wenden kann», sagt Herrmann. Das macht sie wütend. Wenigstens kennt sie mittlerweile Leidensgenossen, mit denen sie sich austauschen kann. Herrmann selber lässt sich vom Hausarzt weiter abklären. In der Zwischenzeit hofft sie, «dass irgendwann mal mein altes ­Leben zurückkommt».

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Langzeitfolgen bislang unbekannt

Was Corona-Langzeitfolgen angeht, weiss die Wissenschaft etwa gleich viel wie über die Zeit vor dem Urknall. Weil die Krankheit so jung ist, fehlen schlicht die Daten. Allmählich fliessen sie aber nun doch zusammen. Aus China meldeten die Forscher kürzlich Besorgniserregendes: Sechs Monate nach der Infek­tion leiden 63 Prozent der Untersuchten noch immer an Müdigkeit und Muskelschwäche, 26 Prozent kämpfen mit Schlafstörungen und 23 Prozent haben eine Depression davongetragen. Allerdings befanden sich die Befragten alle in Spital­behandlung, haben also einen schweren Verlauf durchlitten.

Wie steht es um Patienten mit ­milden bis mittelschweren Symp­tomen, die zum Zeitpunkt der Infektion nicht ins Spital mussten? Die Antwort liefert hoffentlich bald Milo Puhan, Epidemiologe an der Uni­versität Zürich. Weltweit warten Wissenschaftler auf Puhans Studie. Im Februar will er seine Er­gebnisse ­publizieren, wie er SonntagsBlick versichert.

Je schwerer der Verlauf, desto eher rechnet man mit Langzeitfolgen

Eine erste Prognose wagt Puhan bereits: Je schwerer der Verlauf, desto eher ist mit Langzeitfolgen zu rechnen. Und: Auch nach mildem Verlauf drohen bei mindestens 20 Prozent längerfristige Beschwerden.

«In absoluten Zahlen gesehen, könnten es sehr viele Betroffene werden», sagt Milo Puhan, der bisher von mindestens 1,2 Millionen Infizierter in der Schweiz ausgeht. 20 Prozent von ihnen – das wären 240 000 Long-Covid-Betroffene. «Natürlich haben viele davon nicht mehr starke Symptome. Wir gehen aber von mindestens zehn Prozent aus, die noch nach sechs Monaten stark beeinträchtigt sind». Puhan rät jedenfalls dringend, das Pro­blem nicht nur medizinisch zu ­betrachten, sondern breiter, also auch sozial.

«Ich hatte Todesangst»

Wie Bruno Bucher (65) so dasitzt, mit prüfendem Blick und den verstrubbelten Haaren, anscheinend bereit, sofort aufzuspringen und loszulegen, könnte man meinen, der Mann habe alles im Griff. Doch Bucher fühlt sich gerade gar nicht so.

«Meine Selbstsicherheit täuscht vielleicht», sagt der Marketing­professor aus Biel BE. Auch er ­leidet unter den Langzeitfolgen ­einer Covid-Erkrankung, die er im November durchgemacht hat. Nach dem Gespräch mit SonntagsBlick wird er so erschöpft sein, dass er sich hinlegen muss. Er ist chronisch müde, gelangt schnell an seine Leistungsgrenze.

Eingefangen hat sich Bucher das Virus wohl bei seiner Frau, die als Pflegerin im Spitalzentrum Biel ­arbeitet und die sich wohl bei ­einem Patienten angesteckt hat, wie er berichtet. Mit ihr traf es noch vier Arbeitskolleginnen.

Beide landeten im ­Spital. Bruno Bucher hatte hohes Fieber, Atemnot und brauchte zusätzlichen Sauerstoff, immerhin ohne intubiert zu werden. «Ich hatte Todesangst», sagt er. In zwei ­Wochen nahm er zwölf Kilo ab, in Gedanken ordnete er seinen Nachlass und verabschiedete sich von den zwei Söhnen. Als die Ärzte dann noch eine Blutvergiftung diagnostizierten, erhielt er endlich das rettende Antibiotikum. Seine Lebenskräfte kamen zurück. «Ich beschloss: Hier sterbe ich nicht.»

Hilflosigkeit und Wut

Es folgten Wochen der Reha in Heiligenschwendi BE, kurz vor Weihnachten durfte er nach Hause. Seine Frau geht mittlerweile wieder arbeiten. Bucher nicht. Der Professor der Berner Fachhochschule ist krankgeschrieben, Ende des Monats wird er pensioniert. Kein schöner Abschluss eines ­Arbeitslebens.

Manchmal fallen ihm Wörter nicht mehr ein, er hat Mühe, sich länger zu konzentrieren. Als ­Bucher damit begann, unbeantwor­tete E-Mails abzuarbeiten, belastete ihn das psychisch so stark, dass er die Übung abbrechen musste. «Was passiert mit mir?», fragte er sich.

Eigentlich wollte er auf Mandatsbasis noch ein paar Jahre weiter­arbeiten. In Ghana, der Heimat ­seiner Frau, plante er Projekte. Das alles war auf einmal nicht mehr so sicher.

In ein paar Wochen soll Bucher erstmals wieder referieren. «Ich sorge mich, dass ich den Faden ­verliere, dass Konzentration und Kraft nicht reichen», sagt er.

Neue Volkskrankheit Long Covid?

Neben der Hilflosigkeit ist da aber auch noch ein anderes Gefühl: Wut. Ärger über die «Schweizer Misstrauenskultur». Bucher: «Long-Covid-Betroffene werden sehr rasch als ­Simulanten hingestellt.» Weil viele Symptome nur schwer messbar ­seien, werde das Thema nicht ernst genommen. Er fordert vom Bundesamt für Gesundheit eine Strategie: «Wenn Langzeitfolgen bei Leuten chronisch werden, sprechen wir von einer neuen Volkskrankheit.»

Neue Volkskrankheit Long Covid? Die Folgen für den Sozialstaat wären immens. Allein die Frage, welche Sozialversicherung mög­licherweise Zehntausenden Betroffener dereinst helfen soll, hat Sprengkraft. Wenn sich jemand bei der Arbeit infiziert hat, wäre die Unfallver­sicherung gefordert. Wenns in der Freizeit geschah, müsste die Invalidenversicherung (IV) zahlen. Fürs Portemonnaie der Betroffenen macht das grosse Unterschiede. Nur ist oft unklar, wo sich jemand angesteckt hat. Beweisprobleme allenthalben. «Die Gerichte werden diese Fragen entscheiden müssen», prognostiziert Philippe Luchsinger, Präsident des Schweizer Hausärzteverbands.

Versicherungen gehen einstweilen schon mal in Deckung. Auf Anfrage von SonntagsBlick, ob eine Corona-Vorerkrankung künftig ein Grund sein könnte, jemandem die Zusatzver­sicherung zu verwehren, wiegeln Visana, Axa, KPT, Concordia, Sanitas, Helsana, Groupe Mutuel und CSS unisono ab. Um dann nicht weniger synchron die «sorgfältige Risikoprüfung» zu betonen, die man natürlich «anhand der Gesundheitsdeklaration» bei jedem Bewerber vornehme.

Die Aussichten für Séverine Herrmann, Bruno Bucher und Co. könnten berauschender sein.

Unsere helvetische Misstrauenskultur

Irgendwann wird die Pandemie gestoppt sein. Der Moment der Normalität, das Leben vor Corona, wie es sich alle sehnlichst herbeiwünschen, wird für Zehn­tausende Menschen in der Schweiz aber nicht mehr wiederkommen. Die Rede ist von jenen Menschen, die zwar von Covid geheilt wurden, deswegen aber noch lange nicht gesund sind.

Sie leiden an Long Covid. Über diese Langzeitfolgen einer Covid-­Erkrankung redete man in der Schweiz bisher kaum. Keine offizielle Behördeninformation, ­keine Sprechstunden oder spezi­fische Behandlungs- und Reha-­Angebote. Betroffene fühlen sich ­alleingelassen. Nicht ernst genommen. Hilflos.

Peinlich für das Land mit dem ­offiziell besten Gesundheitssystem Europas – und dem teuersten der Welt (zusammen mit den USA). Das Ausland macht es besser. In England haben sich bereits über 60 Kliniken für Long-Covid-Betroffene zusammengeschlossen, der National Health Service (NHS) nahm Mil­lionen in die Hand. In Deutschland haben mehrere Spitäler eine «Post-Covid-Ambulanz».

Warum kümmern wir uns nicht um dieses Problem? Es ist höchste Zeit dazu. Long Covid wird nicht verschwinden. Im Gegenteil. Für die Krankenkassen und die Sozialversicherungen wie die IV und die Unfallversicherung dürften die Langzeit­folgen zum Stresstest werden.

Hat es damit zu tun, dass wir den Betroffenen nicht glauben? Viele ­Patienten der ersten Welle können keinen Test vorweisen, weil sie sich damals nicht testen lassen durften. Viele Symptome sind nicht greifbar. Manchmal kaum messbar. Die Schatten auf der Lunge sind längst wieder weg, die Atemnot aber blieb. Oder wie misst man Fatigue, also chronische Müdigkeit und Erschöpfung?

Bereits vor der Pandemie gab es unsichtbare Leiden, wie etwa Schleudertraumata, die von den Ver­sicherern misstrauisch beäugt wurden. IV-Rentner werden seit Jahren gezielt in die Sozialhilfe abgeschoben, wie SonntagsBlick aufgedeckt hat. Depressiven wird systematisch eine IV-Rente verweigert.

Diese wachsende Entsolidarisierung und Misstrauenskultur ist unter anderem jenen Missbrauchsdebatten geschuldet, die vor Jahren die SVP lostrat. Und auch jetzt schüren Teile der Partei bereits fleissig den Unfrieden. Wie jüngst der abgewählte SVP-Nationalrat Christoph Mörgeli in der «Weltwoche»: Die «Pandemie solcher Rentenansprüche» werde die Covid-Pandemie um Jahrzehnte überleben, warnte Mörgeli. Und deckte die ­Betroffenen gleich noch mit einem Sprüchlein ein: «Als der Kranke genas, war er ärger als zuvor.» Das ist zynisch und geschmacklos.

In Bundesbern gab es für Betroffene diese Woche immerhin erste Good News. Die Gesundheitskommission des Ständerats wollte ­wissen, wie es um die Betreuung von Long-Covid-Betroffenen steht und insbesondere wer deren Therapien finanziert.

Es geht also wieder mal zuerst ums Geld, aber zumindest geht was.

– Tobias Marti

Irgendwann wird die Pandemie gestoppt sein. Der Moment der Normalität, das Leben vor Corona, wie es sich alle sehnlichst herbeiwünschen, wird für Zehn­tausende Menschen in der Schweiz aber nicht mehr wiederkommen. Die Rede ist von jenen Menschen, die zwar von Covid geheilt wurden, deswegen aber noch lange nicht gesund sind.

Sie leiden an Long Covid. Über diese Langzeitfolgen einer Covid-­Erkrankung redete man in der Schweiz bisher kaum. Keine offizielle Behördeninformation, ­keine Sprechstunden oder spezi­fische Behandlungs- und Reha-­Angebote. Betroffene fühlen sich ­alleingelassen. Nicht ernst genommen. Hilflos.

Peinlich für das Land mit dem ­offiziell besten Gesundheitssystem Europas – und dem teuersten der Welt (zusammen mit den USA). Das Ausland macht es besser. In England haben sich bereits über 60 Kliniken für Long-Covid-Betroffene zusammengeschlossen, der National Health Service (NHS) nahm Mil­lionen in die Hand. In Deutschland haben mehrere Spitäler eine «Post-Covid-Ambulanz».

Warum kümmern wir uns nicht um dieses Problem? Es ist höchste Zeit dazu. Long Covid wird nicht verschwinden. Im Gegenteil. Für die Krankenkassen und die Sozialversicherungen wie die IV und die Unfallversicherung dürften die Langzeit­folgen zum Stresstest werden.

Hat es damit zu tun, dass wir den Betroffenen nicht glauben? Viele ­Patienten der ersten Welle können keinen Test vorweisen, weil sie sich damals nicht testen lassen durften. Viele Symptome sind nicht greifbar. Manchmal kaum messbar. Die Schatten auf der Lunge sind längst wieder weg, die Atemnot aber blieb. Oder wie misst man Fatigue, also chronische Müdigkeit und Erschöpfung?

Bereits vor der Pandemie gab es unsichtbare Leiden, wie etwa Schleudertraumata, die von den Ver­sicherern misstrauisch beäugt wurden. IV-Rentner werden seit Jahren gezielt in die Sozialhilfe abgeschoben, wie SonntagsBlick aufgedeckt hat. Depressiven wird systematisch eine IV-Rente verweigert.

Diese wachsende Entsolidarisierung und Misstrauenskultur ist unter anderem jenen Missbrauchsdebatten geschuldet, die vor Jahren die SVP lostrat. Und auch jetzt schüren Teile der Partei bereits fleissig den Unfrieden. Wie jüngst der abgewählte SVP-Nationalrat Christoph Mörgeli in der «Weltwoche»: Die «Pandemie solcher Rentenansprüche» werde die Covid-Pandemie um Jahrzehnte überleben, warnte Mörgeli. Und deckte die ­Betroffenen gleich noch mit einem Sprüchlein ein: «Als der Kranke genas, war er ärger als zuvor.» Das ist zynisch und geschmacklos.

In Bundesbern gab es für Betroffene diese Woche immerhin erste Good News. Die Gesundheitskommission des Ständerats wollte ­wissen, wie es um die Betreuung von Long-Covid-Betroffenen steht und insbesondere wer deren Therapien finanziert.

Es geht also wieder mal zuerst ums Geld, aber zumindest geht was.

– Tobias Marti

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