Senioren diskutieren über ihre Lebenserkenntnisse
«Man realisiert, dass es irgendwann ein Ende gibt»

Im Alter wird man gelassener. Sagt man. Wir wollten das genauer wissen, haben zum Jahresende eine Gruppe Senioren getroffen und mit ihnen über die grossen Themen des Lebens gesprochen.
Publiziert: 28.12.2019 um 14:16 Uhr
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Aktualisiert: 30.12.2019 um 10:43 Uhr
Alexandra Fitz

Ab fünfzig geht es mit der Lebenszufriedenheit, die sich wie ein U entwickelt, wieder steil bergauf. Der Arzt und Comedian Eckart von Hirschhausen (52) spricht gar von der «besseren Hälfte». Das Alter sei kein Abstieg, es sei Leben für Fortgeschrittene. Darauf könne und dürfe man sich freuen.

Ist das so?

«Das hat was, aber 50 dünkt mich etwas früh», sagt Peter Wyss. Der 77-Jährige sitzt gemeinsam mit drei Kollegen an einem Tisch in einem Café in Köniz bei Bern. Sie betätigen sich alle bei der Organisation Pro Senectute, setzen sich also fast schon professionell mit dem Alter auseinander. Die ideale Runde für die grossen Themen des Lebens. Schon am Telefon zuvor nennt Wyss eine Erkenntnis, zu der er im Alter kam: «Man merkt, dass man gar nicht so viel Zeit hat, und die, die man hat, läuft davon.»

Eine Seniorengruppe spricht über Lebenserkenntnisse. Von links: Therese Gschwendtner (68), Ernst Synes (72), Barbara Niederhäuser (69) und Peter Wyss (77).
Foto: Philippe Rossier
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Familie

Der ehemalige Produktionsleiter der «Berner Zeitung» beginnt das Gespräch in der Runde mit etwas, das ihm schon mehrmals durch den Kopf gegangen ist: «Ich hätte mich früher mehr mit meiner Familie auseinandersetzen sollen. Mehr Zeit mit ihr verbringen.» Das mache sein Sohn jetzt mit seinen drei Kindern – und das, obwohl er eine Führungsposition habe.

Es gab Monate, an denen er keinen Abend daheim war, und am Wochenende hatte er auch noch etwas. «Man hat das Gefühl, man muss das alles, aber man muss es gar nicht. Fest steht: Diese Zeit kann man nicht mehr aufholen», sagt Wyss.

Synes Ernst (72), ehemaliger Journalist, Mitglied der CVP und ehemaliger Gemeinderat in Ostermundigen, macht seine Generation dafür verantwortlich: «Aus heutiger Sicht würde man sich vielleicht nicht mehr so stark auf den Beruf konzentrieren, aber es war eine andere Zeit. Das Rollenverständnis ein anderes.»

Es war selbstverständlich, dass der Mann arbeitet und das Geld nach Hause bringt, um die Familie zu ernähren. Die Frau ging, wenn überhaupt, erst wieder arbeiten, als die Kinder grösser waren. Die Möglichkeit, Teilzeit zu arbeiten, gab es damals kaum. «Aus heutiger Sicht würde ich es vielleicht anders machen, ich weiss aber nicht, ob es besser rausgekommen wäre», sagt der Senior.

Die 68-jährige Therese Gschwendtner kennt die andere Seite: «Ich bin in einer von Männern dominierten Welt gross geworden und musste mein ganzes Leben dagegen ankämpfen.»

«Gegen das Rollenverständnis», pflichtet ihre Kollegin bei, Barbara Niederhäuser (69) aus Muri BE. Sobald man als Frau etwas anderes gemacht habe, etwa auswärts arbeiten, sei man eine schlechte Mutter gewesen, erzählt Gschwendtner. Sie diente im Militär und arbeitete als Sachbearbeiterin, sobald die Kinder etwas grösser waren.

Als Niederhäuser wieder arbeiten ging, sei das ein Spiessrutenlaufen gewesen. Eine Zeit lang war sie voll in der Mutterrolle aufgegangen. Aber dann kam ein Angebot. Zu Hause wurde gefragt: Wer kocht dann? Wer macht den Haushalt? Jahrelang machte die gelernte Röntgenassistentin alles alleine: Haushalt, Kinder, Hund, Garten.

Und heute? Heute hilft er mit. Er bringt den Müll raus, räumt das Geschirr in die Maschine. Fast zu viel. Die Gruppe lacht. «Ja wirklich, es ist fast befremdlich», sagt Niederhäuser. Streit gab es nicht, sie sagte ihm eines Tages einfach, was sie schon lange dachte: «Du darfst jetzt mithelfen!»

Charakter

Früher habe man seine Meinung zu wenig klar geäussert. «Ich hätte früher mehr zu meiner Meinung stehen müssen – auch für etwas, das quer in der Landschaft steht», sagt Peter Wyss. Man solle für etwas einstehen, von dem man überzeugt sei. «Manchmal spielte man eine Rolle und war gar nicht authentisch.»

Die beiden Frauen stimmen ein: «Hartnäckiger sein!» Früher hätten die Eltern gesagt, wie es geht. Man sei so erzogen worden. Heute sei man viel freier.

Und gelassener. «Ich kann mich heute immer noch grausam aufregen, aber ich kann besser unterscheiden», sagt Ernst. Mit dem Alter habe er gelernt, was wesentlich sei. «Die Hunde bellen, die Karawane zieht weiter.»

Kann man diese Altersgelassenheit, die man jenseits der 60 so oft beobachtet – und bewundert, lernen? «Es ist ein Prozess», sagt Wyss.

«Auch Abstumpfung», meint Niederhäuser.

Wyss: «Resignation! Was soll das jetzt noch? Warum über Dinge aufregen, die ich nicht mehr ändern kann? Dinge, über die man früher stundenlang lamentierte.»

«Das ist doch nicht Resignation!», kritisiert Ernst. «Es ist eine Einsicht.»

Man realisiere, dass es irgendwann ein Ende gebe und dass dieses Ende nicht mehr so weit weg sei wie bei einem jungen Menschen. «Also musst du die Zeit, die dir zur Verfügung steht, noch sinnvoll nutzen.» Sinnvoll bedeute: das Richtige machen, mit jenen Menschen Kontakt pflegen, die einem wichtig sind. Daraus ergebe sich eine gewisse Gelassenheit und ein Glücksgefühl. Das sei keine Niederlage.

Niederhäuser erzählt von einer ganz persönlichen Erkenntnis: Sie könne nicht aufschreiben, was sie in ihrem Leben genau gemacht habe. «Korrekt gearbeitet, jeden Staub weggewischt, Kinder bekommen, das ist nichts, was ich vorzeigen kann, ich habe kein Lied, kein Buch geschrieben.» Nichts sei nachhaltig.

«Moment, du hast drei Kinder gross gezogen», entgegnet Gschwendtner. «Ja, aber wenn man zurückschaut, geht das so etwas von unter.» Was sie denn anderes erwartet habe, fragt Gschwendtner verblüfft. «Dass ich irgendeinen tollen Wurf mache. Etwas Spezielles», antwortet die 69-Jährige.

Arbeit

«Wenn ich früher gewusst hätte, wie schön es ist, pensioniert zu sein, und wenn ich es mir hätte leisten können, hätte ich mich schon mit 60 pensionieren lassen», sagt Wyss. Stattdessen hat der Mann aus Kehrsatz BE noch länger gearbeitet, als er musste.

Die Beziehung zum Arbeitsfeld solle man aber so lange wie möglich beibehalten, meint Niederhäuser. Oder Ämter mit Verantwortung übernehmen, wo man sich noch mit dem Kopf auseinandersetze. Es sei eben auch gefährlich, sich früh pensionieren zu lassen. Wenn man nichts mehr habe, was einen fordere, und man sich nur noch in einem warmen Bad bewege.

«Ja, aber man ist endlich nicht mehr fremdbestimmt», entgegnet Wyss.

«Der Beruf hat auch was Gutes. Er gibt dir Struktur. Die fällt plötzlich weg», sagt der ehemalige Journalist Ernst. Man solle sich früh damit auseinandersetzen, was man im Alter mache. Nur wer sich in jüngeren Jahren engagiere, mache das auch später.

Aussehen und Gesundheit

«Ich bin heute nicht mehr so perfekt wie früher», sagt Wyss. Und das sei gut so. Kein Krawattenzwang, die Wohnung nicht immer aufgeräumt. Mal etwas liegen lassen. Das sei mehr Lebensqualität.

«Wenn du älter bist, kennst du dich in- und auswendig. Dann ist dir das Aussehen nicht mehr so wichtig. Du stehst ja mit beiden Beinen im Leben», sagt Gschwendtner. Man müsse akzeptieren, dass das Gewebe nicht mehr so straff sei, dass man Runzeln bekomme. Das sei ein Prozess. «Das kann man nicht schönreden», sagt die 68-Jährige.

«Es wird nicht besser», pflichtet ihre Kollegin Niederhäuser bei. Wenn man in den Spiegel schaue, sehe man ja immer gleich alt aus – was natürlich nicht stimme. Dann sagt sie etwas, was man von vielen Frauen über 60 hört: «Zwischen 40 und 50 ist das beste Alter. Man hat schon ein wenig Erfahrung, ist aber noch jung.» Man merkt es zu dem Zeitpunkt bloss nicht. «Ab 60 ist das Leben nicht mehr absurd toll.» Es kämen Krankheiten, ringsum fangen sie an zu sterben. Man habe alte Eltern und die ersten Enkelkinder. Man sei in der Mitte, komme sich vor wie das Scharnier einer Tür, einmal Kinder, einmal Eltern, immer hin und her. Ab 65 spürte Niederhäuser, dass das Leben endzeitlich ist. Jetzt reflektiert sie. Jetzt schaut sie zurück, nicht nach vorne. Denn da komme nicht mehr viel Schönes.

Bei Ernst hat sich vor zehn Jahren etwas stark verändert. Er hatte eine Herz-Operation und sagt jetzt: «Ich bin heute fitter, als ich es mit 30 war.» Er schaut heute mehr für sich. Lebt gesünder. «Wenn ich gewusst hätte, dass Sport Spass macht, hätte ich früher angefangen», sagt der heute 72-Jährige. Aber es sei ihm egal gewesen. Das Bewusstsein sei erst jetzt da, weil er gerne lebe und lange leben möchte.

Heute oder früher?

Wären sie lieber in eine andere Generation geboren worden? «Nein!», rufen alle heraus. Es fallen Sätze wie: «Ich will nicht jung sein in der heutigen Zeit!»– «Ja nicht!»

Sie seien zwar eine Generation, die eingeschränkter gewesen sei, dafür aber klarere Strukturen gehabt habe. Feste Positionen. «Wir haben gewusst, wo Gott hockt», sagt Synes Ernst.

Man habe aber weniger Druck gehabt als ihre Kinder heute. Gerade mit der Doppelbelastung Beruf/Familie. Seine Kinder, so Ernst, hätten auch bei der Erziehung ihrer Kinder viel mehr Einflüsse von aussen. Die heutigen Generationen müssten ihre Werte selber suchen. Wer heute kleine Kinder habe, habe es schwieriger. Da sind sich alle einig im Café.

Wyss hütet seine drei Enkelkinder jeden Dienstag. Und auch sein Sohn will viel mehr Zeit mit ihm und seiner Frau verbringen. Gleichzeitig beschäftigt es ihn, dass viele Sachen an ihm vorbeigingen, als sein Sohn aufwuchs.

«Ich mache etwas mit meinem Enkel, was ich mir als langjähriger YB-Fan schon immer gewünscht hatte: Wir haben ein Saison-Abo für YB-Heimspiele», sagt Ernst. Das biete die besten Möglichkeiten zum Austausch mit Jungen. Aber er habe sechs Grosskinder und könne nicht mit jedem an die Spiele gehen. Seien sie dann noch Fan eines anderen Klubs, sei das sehr heikel. Er müsse ja auch Spass haben, sagt Ernst und lacht.

Freundschaft

Noch etwas fällt der Gruppe ein: Freundschaften müsse man früh genug pflegen. Die Gruppe bereut es, oft zu wenig Zeit für Freunde gehabt zu haben. «Weil man im Alltag untergeht», erklärt Niederhäuser. Freundschaften verändern sich auch. «Ich habe grad eine Zeit, wo ich mich von Freundschaften verabschiede», sagt Gschwendtner. Damals habe es gestimmt. Aber Interessen und Sichtweisen haben sich verändert. Neue Freundschaften entstehen und wachsen.

Wenn man in Pension sei, merke man, dass die Freundschaften im Beruf lediglich funktionell gewesen seien. Ernst ist froh, dass seine Frau Freundschaften pflegte, die wirklich welche sind. Da seien Frauen schon sehr wichtig. Sie seien es, die das soziale Netz aufbauten. «Der Mann hat seines im Beruf, aber das fällt danach zusammen», sagt Ernst. Generell seien seine Beziehungen heute verbindlicher geworden. Ernsthafter. Heute beobachtet er, dass seine Kinder intensivere Freundschaften haben als sie damals. «Oh ja, das merke ich auch», sagt Niederhäuser.

Vor rund 40 Jahren gründeten zwölf Männer in Kehrsatz einen Klub, dem auch Wyss angehört. Das sei etwas vom Besten, was sie machen konnten. Leider leben nur noch sieben, aber man helfe einander. Heute noch. Echte Freundschaften. Im Alter sei das sehr wertvoll, aber man müsse es rechtzeitig aufbauen.

Das mit der Lebenszufriedenheit ist übrigens wissenschaftlich bewiesen. In seinem Buch «Die bessere Hälfte» stellt Eckart von Hirschhausen fest, dass die meisten Menschen in der Tat mit 67 zufriedener sind als mit 17 oder 37.

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