Selbstvermessungs-Hysterie
Ungesunde Wellness

Fitnessarmband, Yoga, Superfood – die Branche boomt, hat aber Nebenwirkungen, die krank machen können.
Publiziert: 26.11.2018 um 20:33 Uhr
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Aktualisiert: 27.11.2018 um 12:18 Uhr
Wellness mit Yoga, Vitamin-Pillen und Co. boomt. Dies wegen des Gesundheitswahns und der technischen Entwicklung.
Foto: Getty Images
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Rebecca Wyss

Früher war Achim Heger ein «Self-Tracking»-Freak und zeichnete ständig irgendwelche Körperwerte auf. Zu Hause in Erlenbach ZH liess er nachts bis zu vier Geräte seinen Schlaf messen. Morgens stand er auf einer Waage, die Gewicht, Fettanteil und Puls an eine ­Fitness-Webseite übermittelte. Dort gab er anschliessend auch das Ergebnis der Schlafmessungen ein und beantwortete Fragen wie: «Welche Farbe hat dein Urin?» oder «Wie gehts dir heute?»

Dann bekam er eine Einschätzung, etwa: «Heute nicht so fit, besser kein Sport.» Andere Geräte erinnerten Heger, häufiger zu Fuss zu gehen, langsamer zu essen oder richtig zu joggen.

Seit zwei Jahren hat Heger ­darauf keine Lust mehr. «Ich mag oft nicht mal mehr eine Uhr tragen, es fühlt sich an wie eine Fessel.

Alles im Namen des Wohlbefindens

Der 42-Jährige steht damit ziemlich allein: Schritte zählen, Puls messen, Blutdruck prüfen liegt im Trend. Nicht nur bei den Jüngeren. Das zeigt eine Studie der ETH Zürich. Elf Prozent der über 50-Jährigen tragen ein Fitnessarmband, sieben Prozent eine Smartwatch, jeder Achte vermisst sich selbst per App. Alles im Namen des Wohlbefindens.

Egal ob Yoga, Detox-Kuren, Nahrungsergänzungsmittel oder Messgeräte – Wellness ist omnipräsent. Mehr noch: «Wellness ist dank der voranschreitenden Technik im Mainstream angekommen», sagt Marta Kwiatkowski vom Gottlieb Duttweiler Institut. Zum Beweis führt die Autorin der Studie «Wellness 2030» den Hype um die neuste Apple-Watch an. Dank dieses Gadgets kann jeder selbst seine Herzfrequenz messen – früher brauchte man dafür ­einen Arzttermin.

Früher sorgte man sich auch nur darum, gesund zu bleiben oder Krankheiten zu heilen. Denn davon hing sehr viel ab: Ein ­arbeitsunfähiger Vater konnte seine Familie nicht ernähren. Heute geht es eher um Prävention. Aber eben auch um Selbstverwirklichung, Selbstoptimierung und die Besessenheit mit dem eigenen Körper. Wir wollen schön, fit, fröhlich und vital bleiben.

Wellness macht aus uns lauter Kranke

Der Trend pflanzt Normen in die Köpfe, wie ein Körper auszusehen und zu funktionieren hat, damit sein Besitzer als vollwertiges Mitglied der Gesellschaft gelten kann. So wird aus einem Kilo zu viel schnell Übergewicht und aus Kopfweh Migräne: Wellness macht Mängelwesen aus uns. Und lauter Kranke.

«Die Industrie lebt davon, Diagnosen zu stellen – auch für völlig Gesunde», sagt Denis Uffer. Der Arzt, der im Vorstand des Vereins Skeptiker Schweiz sitzt, erlebt völlig Gesunde, die auf eine Blutgruppendiät schwören. «Das kann gefährlich sein, wenn es zu 
einer Mangelernährung führt.» Oder Patienten, die ihren Darm entgiften wollen. Kaum ein Spa, das nicht auch dies noch anbietet. Uffer kann es nicht mehr ­hören: «Eine Entschlackung braucht keiner, die bringt nichts.» Solange die Niere und die Leber normal funk­tionierten, sei eine Entgiftung zumeist gar nicht nötig.

Achim Heger, der mittlerweile aus diesem Wellness-Wahn ausgestiegen ist, gehörte zu den Pionieren der Selbstvermessungs-Bewegung in der Schweiz, zu den sogenannten Quantified Self Zurich – einer Gruppe mit 700 Leuten.

«Tracking wird in Zukunft unser Leben bestimmen»

Heute ist er «desillusioniert». Auch weil die Geräte nicht verlässlich sind. Vier Schlaftracker zum Preis von 1000 Franken sind nutzlos, wenn sie sich nicht einig sind, ob Heger genügend Tiefschlaf bekommen hat oder nicht. Und noch etwas wurde ihm bewusst: Messen ist nur eine Form der Wahrnehmung. «Ich kann ja spüren, ob ich heute müde bin oder dass ich zugenommen habe, wenn die Hose nicht mehr passt.» Wie man daran erkennt, ist Achim ­Heger geheilt. Den Trend jedoch wird er kaum stoppen können.

«In Zukunft wird das Tracking unser Leben bestimmen, ob wir wollen oder nicht», meint Marta Kwiatkowski vom Gottlieb Duttweiler Institut. Schon heute kann der BH eines japanischen Unterwäschekonzerns die Konzentration des Glückshormons Dopamin in der Haut messen. Liegt sie zu tief, lässt sich der Verschluss nicht öffnen. In der Schweiz lässt die Versicherung Helsana ihre Mitglieder Daten sammeln, mit denen sie bei vorbildlichem Lebenswandel eine Geldbelohnung bekommen.

Wer krank ist, Übergewicht hat oder eine Behinderung, wird benachteiligt. Wohin solche Entwicklungen führen, ist offen. Fest steht nur: Der Jugendkult, der Gesundheitswahn und die Optimierungssucht spielen einer ganzen Industrie in die Hände.

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