Rolf Maria Reichle (64) war 30 Jahre Gefängnisprediger
«Die Abgründe des Menschen sind schlimm»

Rolf Reichle (64) wurde nach 30 Jahren als Gefängnispfarrer pensioniert. Im BLICK schaut er auf seine lange Karriere zurück.
Publiziert: 17.12.2018 um 00:02 Uhr
Michael Sahli

Seine Schäfchen sind Mörder, Vergewaltiger und Pädophile. Pfarrer Rolf Maria Reichle (64) aus Rheinau ZH ist der dienstälteste Gefängnisseelsorger der Schweiz. Nach fast 30 Jahren hat er sich nun zur Ruhe gesetzt. «Gott sei Dank!», lacht er, während er auf dem alten Holzfussboden des Pfarrhauses sitzt. Dann schiebt der drahtige Zwei-Meter-Mann mit ernster Miene nach: «Die Arbeit hinterliess gesundheitliche Spuren. Ich muss abbauen.»

Die Arbeit hinter Gittern ist ein seelischer und psychischer Knochenjob. «Die Abgründe des Menschen sind schlimm. Abgrundtief dunkel», sagt Reichle und schliesst die Augen. «Ich erinnere mich an einen Fall, als ein Vater seine ganze Familie, Ehefrau und die erwachsenen Kinder auslöschte. Am Schluss wollte er sich selber töten. Der Suizidversuch schlug aber fehl – der Familienvater überlebte als Einziger.»

Arbeit hinter Gittern

Arbeit hinter Gittern

Rolf Maria Reichle 
kam am 27. Januar 1954 in ­Radolfzell am Bodensee (D) zur Welt. Mit 18 Jahren absolviert er eine Lehre als Psychiatriepfleger. Später wird er zum Priester geweiht, wird Gefängnisseelsorger und schliesslich Leiter der Gefängnisseel­sorge im Kanton Zürich. Daneben amtet er als Klinikseelsorger in der Psychiatrie Rheinau, wo auch psychisch kranke Straftäter untergebracht sind und weiter als Dorfpfarrer der Gemeinde.

Arbeit hinter Gittern

Rolf Maria Reichle 
kam am 27. Januar 1954 in ­Radolfzell am Bodensee (D) zur Welt. Mit 18 Jahren absolviert er eine Lehre als Psychiatriepfleger. Später wird er zum Priester geweiht, wird Gefängnisseelsorger und schliesslich Leiter der Gefängnisseel­sorge im Kanton Zürich. Daneben amtet er als Klinikseelsorger in der Psychiatrie Rheinau, wo auch psychisch kranke Straftäter untergebracht sind und weiter als Dorfpfarrer der Gemeinde.

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Pfarrer Rolf Reichle aus Rheinau ZH ist der dienstälteste Gefängnisseelsorger der Schweiz. Nach fast 30 Jahren hat er sich nun zur Ruhe gesetzt.
Foto: JESSICA KELLER
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Kirchenmann hilft Killer

Was kann man als Knastpfarrer in so einer Situation tun? Was soll man sagen? «Diese Täter sind umgeben von Menschen, die sie anklagen. Staatsanwalt, Richter, sogar Verteidiger: Menschlich lässt sich niemand auf so jemanden ein!» Und genau hier kommt Reichle ins Spiel. «Mein Job ist es, etwas Licht in diese Dunkelheit zu bringen. Um das geht es – und um nichts anderes.» Killer und Kirchenmann lassen sich aufeinander ein, pflegen intensiven Austausch.

«Er wollte büssen, eines Tages die Wallfahrt nach Santiago de Compostela unternehmen.» Doch dazu kommt es nicht – der Insasse begeht Suizid. «Ich habe seine Briefe aber noch aufbewahrt», sagt Reichle und öffnet seine Augen wieder. Namen will er keine nennen. Es wird aber klar: Er hatte wohl mit den meisten Kapitalverbrechern der letzten Jahrzehnte engen persönlichen Kontakt.

Es sind Geschichten, die schon als unbeteiligter Zuhörer nur schwer zu ertragen sind – geschweige denn zu verstehen. So auch die Geschichte, einer Kindesmörderin, die sich in Haft das Leben nahm. Und ihren Abschiedsbrief zuvor an den Kirchenmann schickte. Wie hält man das aus? «Ich bete viel», sagt Reichle dazu trocken.

Das Leben als Mönch sei fast wie ein Leben im Knast

Und: Jedes Jahr zieht sich Reichle komplett zurück. «Gerade komme ich von zwei Monaten Einsiedelei aus Sardinien zurück. Dort gab es nur Gottes Schöpfung, mich und mein Zelt», erklärt der Gottesmann. «Stille. Absolute Stille. Das gibt es in der Schweiz gar nicht mehr!» Um diese Stille zu erfahren, reist Reichle seit 1972 jedes Jahr in die Wüste. Das Leben als Mönch unterscheide sich nämlich nicht sehr vom Leben im Knast: «Die müssen auch leben wie Mönche, nur unfreiwillig.»

Natürlich gibt es auch hinter Gittern so etwas wie einen Alltag. «Meist habe ich mit relativ unspektakulären Fällen zu tun: Drogen, Einbruch, Raub – das Gefängnis ist ein Spiegel unserer Gesellschaft.» In diesen Fällen hat Reichle einen sehr weltlichen Ansatz, den Knastbrüdern Hoffnung zu bringen: Er wisse mittlerweile ganz genau, welche Strafen auf die Delikte stehen. «Wenn ich dann jemanden habe, der etwa mit einem Kilo Koks am Flughafen erwischt wurde, kann ich sagen: ‹Hör zu, du kommst hier wieder heraus. Es gibt Hoffnung!›»

Vom Psychiatriepfleger zum Knastpfarrer 

Dass Reichle überhaupt hinter Gittern landete, war purer Zufall. Auch wenn der Priester nicht an Zufälle glaubt. Im Alter von 18 Jahren zog es ihn in die weite Welt hinaus. «Ich kaufte für 500 Franken einen VW-Bus und fuhr mit zwei Freunden nach Indien. Von Natur aus bin ich ein Abenteurer», schmunzelt er.

Zurück aus der weiten Welt landete der junge Reichle im engen Herisau. Er absolvierte zunächst eine Lehre als Psychiatriepfleger. Gläubig sei er aber schon immer gewesen. Trotzdem: Der Plan, Priester zu werden, kam spät. «Ich habe mir das lange überlegt, man hat ja eine Freundin und ein Leben», sagt er.

Noch heute betreut der Priester auch die Insassen der grossen Psychiatrie in Rheinau. Und: Er ist Dorfpfarrer. Das bleibt er auch. Die Arbeit in der Dorfkirche unterscheide sich dabei nicht so fest von der Gefängnisseelsorge, wie man annehmen könnte, meint Reichle: «Zwar stehen die Eltern von Kommunionkindern an einem anderen Ort als Mehrfachmörder», erklärt er. «Aber ich muss als Priester die Leute nun mal da abholen, wo sie stehen.»

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