Regisseur Milo Rau (45) analysiert das Geschäftsmodell der Schweiz
Damit es uns gut geht, muss es anderen schlecht gehen

Der umstrittenste Theatermacher inszeniert die legendärste Geschichte auf der wichtigsten Bühne der Schweiz. Im Blick schreibt Milo Rau (45) im Vorfeld seiner «Wilhelm Tell»-Inszenierung im Schauspielhaus Zürich Ende April. Und nimmt nun die Schweiz ins Visier.
Publiziert: 21.04.2022 um 00:32 Uhr
Milo Rau

Wir leben in einer Zeit, die es mag, die Vergangenheit zu korrigieren. Gestern waren wir Rassisten, Patriarchen, Ausbeuter, Fleischesser – sowieso Arschlöcher. Heute jedoch leben wir bewusst, wir gehen freundlich miteinander um. Wir achten nicht nur die Würde der Menschen, sondern auch der Natur. Warum aber hat sich die Geschwindigkeit, mit der der Planet zerstört wird, exponentiell zu unserer Sanftmut erhöht?

Vielleicht lautet die Antwort: Die Ausbeutung wurde verschärft, aber unsichtbar gemacht. Klar, unsere Kinder müssen nicht mehr in Textilfabriken und Kohlebergwerken schuften wie zu Zeiten von Pestalozzi – das erledigen heute die Kinder der Kongolesen und Pakistaner. Die Sex- und Pflegearbeit, für die wir Einheimischen uns zu gut sind, wird von entrechteten Flüchtlingen geleistet. Und die europäische Billigfleisch-Industrie bietet ihre Produkte natürlich nicht in den Hipster-Vierteln Zürichs an, sondern exportiert sie direkt nach Afrika und bringt dort die Märkte zum Einsturz.

«Woke»-Botschaften auf den Billig-T-Shirts

Die Devise lautet, wenig einfallsreich: Damit es uns gut geht, muss es anderen schlecht gehen. Oder psychologisch ausgedrückt: Je sensibler wir sind, desto irrelevanter muss für uns das Leiden jener sein, die uns unser feines Leben finanzieren. Egal, dass unsere Handys, unsere T-Shirts oder Sojadrinks im globalen Süden unter Missachtung aller Menschenrechte produziert werden, solange auf den Etiketten dieser Billigprodukte keine rassistischen Abbildungen zu sehen sind.

Milo Rau bei den Proben für die «Wilhelm Tell»-Inszenierung im Zürcher Schauspielhaus.
Foto: Siggi Bucher
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Der Philosoph Theodor Adorno nannte diese Verfeinerung der Sitten bei gleichzeitiger Brutalisierung der ökonomischen Umgangsformen einst die «Dialektik der Aufklärung». Das klingt kompliziert, die Sache ist aber einfach: Man ändere nichts, sondern verdränge! Aufklärung bedeutet, Etikett und Inhalt «dialektisch» zu betrachten, also als zwei völlig unterschiedliche Wirklichkeiten. Der unaufgeklärte Rassist macht Witze über die Menschen, die er ausbeutet. Der aufgeklärte Rassist dagegen besucht einen Diversity-Workshop und vermeidet das N-Wort, ohne das Geringste an seiner Geschäftspraxis zu ändern.

Noch unsere Grosseltern hofften, dass Automatisierung und Bildung einen neuen, sympathischeren Menschentypus und eine dazu passende Gesellschaft schaffen würden. Die Geschichte bewies leider das Gegenteil: Je höher der Bildungsgrad und je fortgeschrittener die globale Arbeitsteilung, desto brutaler ist der Umgang der Menschen untereinander. Westeuropa wurde zum «Safe Space», in dem Krieg, Sklaverei, Umweltverschmutzung und eklige Altherrenwitze tabuisiert wurden. Umso unerbittlicher muss dafür ausserhalb unserer Business Class die Barbarei wüten.

Hier reinigt ein Schamane das Kunsthaus
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Publikum ist erstaunt:Hier reinigt ein Schamane das Kunsthaus

Raubgut landet fast immer auf Schweizer Konten

Natürlich sind wir Schweizer in dieser Disziplin am weitesten fortgeschritten. Als Umschlagplatz des Rohstoffhandels beuten wir eine ganze Reihe von Ländern in einer Weise aus, von der die klassischen Eroberer nicht zu träumen gewagt hätten. Im letzten Jahrhundert gab es schlichtweg kein einziges verbrecherisches Regime, mit dem wir nicht Geschäfte machten. Egal, wo ein Massenverbrechen verübt wird, am Ende findet sich das Raubgut immer auf Schweizer Konten – bei gleichzeitigem totalem Fehlen irgendeines Schuldbewusstseins.

An keiner einheimischen Firma wird das sinnfälliger als am Waffenfabrikanten Bührle. Bührle hat in den letzten Jahrzehnten ein halbes Dutzend Mal seinen Namen und seine Firmenstruktur verändert. Seine Geschäftspraxis aber ist immer gleich geblieben und erinnert an die des serbischen Massenmörders Karadzic. Karadzic, 2019 vom Den Haager Tribunal zu lebenslanger Haft verurteilt, wirkte, während er die Auslöschung der bosnischen Muslime betrieb, als humanistischer Dichter. Bührle seinerseits lieferte nicht nur Waffen an Hitler und viele weitere Diktatoren. Sondern er kaufte mit dem Blutgeld Bilder von van Gogh und Monet, die die Nazis vorher den verfolgten Juden entrissen hatten.

«Das hier hing in Goebbels Arbeitszimmer»

Aus Massenmord wird Kunst: Adorno hätte diesem perversen kapitalistischen Kreislauf zweifellos ein Spezialkapitel in seiner «Dialektik der Aufklärung» gewidmet. Als ich vor ein paar Wochen mit einer ehemaligen Zwangsarbeiterin von Bührle das Kunsthaus Zürich besuchte, in dem die milliardenschwere Raubkunst hängt, zeigte die Wärterin lachend auf ein Bild: «Das hier hing in Goebbels Arbeitszimmer.» Das grabmalartige Gebäude, in dem Bührles Fascho-Sammlung untergebracht ist, ist mit 100 Millionen Steuermitteln erbaut worden, politisch durchgedrückt von der sozialdemokratischen Regierung Zürichs.

Musste auf diesen Grössenwahn nicht zwangsläufig der tiefe Fall aller Beteiligten folgen? Dann unterschätzen Sie, geneigter Leser, unser Land. Wie immer zur Vertuschung von Verbrechen wurde ein süsslicher «Dokumentations-Raum» eingerichtet. Es wurden die üblichen Artikelserien geschrieben, die zu ausführlich waren, um gelesen zu werden. Die Zürcher Regierung aber distanzierte sich von dem Museums-Projekt, lenkte auf verkehrspolitische Themen um und wurde mit einem Rekordergebnis wiedergewählt.

Entschädigung? Fehlanzeige. Denn die rechtliche Lage ist «zu kompliziert». Niemand spricht mehr über die Leichen im Keller von Bührle. Über ihre Gräber wird, wie im aufgeklärten Zürich üblich, bald schon ein grosszügig begrünter Veloweg führen.

Regisseur Milo Rau inszeniert im Zürcher Schauspielhaus «Wilhelm Tell. Nach Friedrich Schiller». Auf der Bühne stehen auch Laiendarsteller. Am 23. April wird das Stück uraufgeführt.

Für seinen «Wilhelm Tell» holt Milo Rau unterschiedliche Menschen auf die Bühne, die etwas zum Thema Freiheit sagen.
Foto: Siggi Bucher
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