Psychiater Hans-Rudolf Pfeifer (64) erklärt, wie wir unsere Ängste in den Griff kriegen können
«Man muss der Realität ins Auge blicken»

Ein Jahr, das uns an die Grenzen gebracht hat. Psychiater Hans-Rudolf Pfeifer erklärt im BLICK-Interview, wie wir die Krise meistern können – und was der Bundesrat richtig macht.
Publiziert: 30.12.2020 um 07:34 Uhr
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Aktualisiert: 12.01.2021 um 14:48 Uhr
Interview: Fabienne Kinzelmann

Mit Maske und maximaler Distanz: Neun Monate nach Beginn des ersten Lockdowns ist klar, wie man sich begrüsst. Damals, Mitte März, hat BLICK den Psychiater Hans-Rudolf Pfeifer zum ersten Mal besucht. Jetzt ist ein zweiter Teil-Lockdown da, das Jahr geht zu Ende. Und der Mund-Nasen-Schutz ist so selbstverständlich geworden, dass der Experte beim Anzünden des Adventskranzes auf seinem Tisch sogar erst mal vergisst, dass er ihn trägt.

Wie voll war Ihre Praxis in diesem Jahr?
Hans-Rudolf Pfeifer: Total voll. Ich hatte viel mehr Anfragen, als ich überhaupt bewältigen konnte. Gerade gibt es keinen Tag, an dem nicht irgendjemand Kontakt aufnimmt in Zusammenhang mit Corona. Die Bedrohung ist näher, alltäglicher und die Menschen sind zermürbt.

Was beschäftigt die Menschen besonders?
Das Erleben von Grenzen und unserer Endlichkeit. Menschen leiden unter fehlender Nähe und dem Verlust von Freunden und Angehörigen. Besonders in der zweiten Welle haben das viele ganz unmittelbar erlebt. Manche haben Angst- und Schuldgefühle, dass sie Angehörige anstecken könnten. Andere leben sehr isoliert. Ich kenne ältere Menschen, die seit März kaum rausgegangen sind. Dazu ist drohender Arbeitsplatzverlust ein grosses Thema. Viele entwickeln Ängste und Depressionen oder suchtartiges Verhalten, sei es am Bildschirm oder mit Alkohol. Und natürlich haben Spannungen zu Hause zugenommen. Die Familie muss sich neu finden, wenn Vater und Mutter im Homeoffice und die Kinder auch vermehrt zu Hause sind.

Im zweiten Corona-Interview mit BLICK schaut Existenzanalytiker Hans-Rudolf Pfeifer auf das Jahr zurück.
Foto: Philippe Rossier
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Was hat in diesen Situationen geholfen?
Wichtig ist: Zulassen, also den Realitäten in die Augen schauen. Loslassen, das Abschiednehmen von Gewohntem und von vertrauten Menschen. Und sich auf Neues einlassen, offen werden für eine neue Lebensgestaltung. Kontakt halten via Telefon, soziale Medien oder auch Briefe ist sehr wichtig. Man sollte eine feste Tagesstruktur entwickeln, auch auf die eigene Bewegung und Ernährung achten. Manche habe alte Hobbys aufgenommen, neue Hobbys entdeckt, intensiver Musik gespielt und gehört … und: entrümpelt!

Weil die äussere Ordnung auf die innere wirkt?
Ganz genau! Ich rate meinen Patienten übrigens auch, bewusst Radio zu hören und Fernsehen zu schauen. Sich nicht abzukapseln gegenüber dem, was in der Welt passiert.

Wir alle haben mittlerweile erkrankte Freunde oder Bekannte. Trotzdem gibt es noch Corona-Leugner oder Menschen, die das Virus verharmlosen ...
Diese Bewegung war in der ersten Welle recht stark. Damals waren die Krankenhäuser unterbelegt, jetzt sind sie am Anschlag. Die Realität hat die Bewegung wohl abgeschwächt. Aber: Sie existiert weiter.

Wie gehen Sie damit bei Patienten um?
Ich gebe mit Fakten Kontra. Gelingt der Dialog nicht, sage ich: «Okay, Sie sehen das so! Ich sehe das mit guten Gründen anders. Wir müssen das mal so stehen lassen.» Mit der Realität vor Augen ist es leichter geworden, das zu spiegeln. Die Ausbreitung des Coronavirus zu leugnen, macht ja keinen Sinn. Es geht vielmehr darum: Wie gehen wir letztlich damit um?

Bei unserem Gespräch im Frühjahr sagten Sie: «Angst ist ansteckend, aber Hoffnung noch mehr!» Hat sich dieser Satz im vergangenen Dreivierteljahr bewährt?
Klar! Eine positive Erwartung hilft uns bei der Krisenbewältigung. Im Sommer haben wir ja sogar gehofft, dass uns die zweite Welle verschont. Und jetzt macht uns der Impfstoff Hoffnung.

Anfangs habe ich mich penibel an die Regeln und Massnahmen gehalten. Es ist nicht richtig, aber: Vor kurzem war ich sogar ein bisschen beleidigt, weil mich ein enger Freund nicht umarmen wollte.
Jemanden zu umarmen, ist etwas Besonderes geworden. Man teilt nicht mehr beliebig Umarmungen und Küsschen hier, Küsschen da aus. Es zählt also doppelt und dreifach, wenn das jemand bewusst mal macht – möglichst natürlich mit Maske.

Ist es nicht gefährlich, dass sich mein Risikobewusstsein so verschiebt?
Die Pandemie muss von unserem Bewusstsein und Unterbewusstsein erst mal verarbeitet werden. Nach der anfänglichen Angst sind viele jetzt, ich würde sagen, «offen vorsichtig». Es ist auch Teil des Lernprozesses, wenn wir nicht mehr panikartig jede Oberfläche desinfizieren.

Muss ich denn wirklich aus allem was lernen – kann ich 2020 nicht einfach von der Festplatte löschen?
Wir werden Corona sicher nicht aus unserem Lebens- und Gesellschaftsfilm rausschneiden können. Es geht wirklich darum: Was ist daraus entstanden oder was hat uns das bewusst gemacht? Wir werden uns vieles nochmals neu anschauen. Das wird ganz viele nachhaltige Folgen haben, die sich auch im nächsten Jahr oder den nächsten Jahren zeigen werden. Etwa, was die psychische Gesundheit betrifft – angefangen bei den Schülern.

War es eigentlich ein strategischer Fehler, dass der Bundesrat im Sommer die Zügel gelockert hat – oder brauchten wir dieses «Durchschnaufen» im Sommer?
Ganz ehrlich? Ich glaube, wir haben es gebraucht. Ich habe den Eindruck, der Bundesrat hat immer wieder versucht, die Temperatur der Bevölkerung zu fühlen und uns ja nicht zu viel auf einmal zuzumuten. Alles schön dosiert und in Häppchen. Bis wir bereit waren, den nächsten Schritt und aktuell starke Einschränkungen anzunehmen. Ein sehr schweizerischer Weg …

Der uns mehr als doppelt so viele Tote wie Deutschland gekostet hat.
Es ist eine Gratwanderung. Auch diese Erfahrung gehört für uns als Gesellschaft dazu. Man merkt das auch daran, dass es jetzt keinen grossen Aufstand oder Aufschrei gegen den Lockdown gab. Alle sehen: Das ist jetzt einfach nötig. Und beim neuen Virustyp je früher, desto besser.

Trotzdem haben wir beim Impfen die nächste Diskussion. Obwohl die Corona-Impfung noch nicht mal für alle verfügbar ist.
Ja, da gibt es verschiedene Haltungen. Manche sagen ja auch nur höflich, dass sie lieber anderen den Vortritt lassen – und erst mal schauen, was passiert. Dabei wurden die Corona-Impfungen ja schon an Tausenden streng auf ihre Verträglichkeit hin getestet. Ich finde es vorbildhaft, dass sich unser Bundesrat gemeinsam impfen lässt. Und durchaus auch ein bisschen mutig: Man würde sie ja auch nie alle in einem Flugzeug fliegen lassen.

Stimmt, das ist ein gewisses Risiko.
Zuallererst ist es eine Abwägung von Werten. Jeder, der sich impfen lässt, geht mutig voran – bei einem kalkulierbaren Risiko. Und da komme ich wieder mit der Hoffnung: Das ist der Preis, damit wir in einem Dreivierteljahr, in einem Jahr wieder ein einigermassen normales und freies Leben führen können. Endlich wieder aufleben!

Glauben Sie, wir fallen uns alle irgendwann wieder unbeschwert um den Hals?
Ja. Aber das werden wir wieder lernen müssen. Und manche Werte sind nicht mehr in Stein gemeisselt. Über ein Verhüllungsverbot werden wir nach der Maskenpflicht nicht mehr diskutieren. Und ich kann mir keinen Aufschrei mehr vorstellen, wenn ein Schüler seiner Lehrerin nicht die Hand geben will. Aber wir werden uns wieder an grossen Sporterlebnissen begeistern und Künstler geniessen, wir werden uns wieder mit voller Mimik anlächeln und begegnen. Vieles im Leben wird bewusster sein. Und wir brauchen eine neue Kultur der Solidarität, der Wertschätzung und der Dankbarkeit. Das könnte viel zur Gesundung unserer Gesellschaft und unseres Lebens beitragen.

Der Berufsoptimist

Mehr als 30 Jahre Berufserfahrung hat der Psychiater Hans-Rudolf Pfeifer (64). Der Existenzanalytiker – eine auf den Holocaust-Überlebenden Viktor E. Frankl (1905–1997) zurückgehende Behandlungsform – engagiert sich für die personenzentrierte Medizin. Besonders bei jungen Leuten beobachtete er in diesem Jahr eine «bewundernswerte Flexibilität». Seine Tochter musste ihre Hochzeit x-mal umstellen, die Trauung fand schlussendlich draussen statt.

Jessica Keller

Mehr als 30 Jahre Berufserfahrung hat der Psychiater Hans-Rudolf Pfeifer (64). Der Existenzanalytiker – eine auf den Holocaust-Überlebenden Viktor E. Frankl (1905–1997) zurückgehende Behandlungsform – engagiert sich für die personenzentrierte Medizin. Besonders bei jungen Leuten beobachtete er in diesem Jahr eine «bewundernswerte Flexibilität». Seine Tochter musste ihre Hochzeit x-mal umstellen, die Trauung fand schlussendlich draussen statt.

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