Obdachlosigkeit nimmt stark zu
Immer mehr Menschen leben in Bern auf der Strasse

Für die letzten Weihnachtseinkäufe hasten die Bernerinnen und Berner unter Lauben an Dutzenden Bettelnden vorbei. Die Obdachlosigkeit in der Bundesstadt ist stark gestiegen und sichtbar geworden. Drei Betroffene erzählen.
Publiziert: 24.12.2023 um 09:52 Uhr
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Aktualisiert: 24.12.2023 um 10:36 Uhr
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Lino SchaerenRedaktor

Dänu (52) sitzt unter den Lauben in der Berner Altstadt, mitten in der belebten Einkaufsmeile. Hier ist er praktisch jeden Tag. Oft mehrere Stunden, vor sich einen Becher und ein Kartonschild: «Bitte spendet Geld». Dänu hat im Februar seine Wohnung verloren. Wegen Konflikten mit der Vermieterin, wie er sagt. Seither verbrachte er die Nächte im Schlafsack unter einem Vordach am Aareufer. Tagsüber bettelt er in der Innenstadt. «Ich bin froh, wenn 50 bis 60 Franken zusammenkommen.» Genug für ein Gramm Heroin, sagt Dänu.

Einer von Vielen

Der Berner raucht das Opioid seit 32 Jahren. Die Drogen haben Dänu früh in seinem Leben in Abgründe geführt. Seine Lehre als Topf- und Schnittblumengärtner hat er in jungen Jahren abgebrochen, in ein geregeltes Leben fand er seither nie. Immer wieder kam er mit dem Gesetz in Konflikt, stets sei die Sucht der Auslöser gewesen, sagt er. Dänu hat mehrere Jahre im Gefängnis verbracht, zuletzt vor vier Jahren, weil er in Autos eingestiegen sei, um nach Wertsachen zu suchen. Doch damit sei es vorbei, beteuert er. Seit er wieder auf freiem Fuss ist, finanziert sich Dänu sein Heroin mit Betteln statt Stehlen. Zusammen mit der Sozialhilfe komme er damit über die Runden, sagt er. «Es reicht gerade so zum Überleben.»

Wenn Dänu mit seinem Kartonschild unter den Berner Lauben sitzt, ist er einer von vielen. Hier wird die Armut sichtbar, der städtischen Gesellschaft wird die steigende Obdachlosigkeit vor Augen geführt. Gemäss Bundesamt für Statistik waren 2021 in der Schweiz 745'000 Personen von Armut betroffen, weitere 1,25 Millionen Menschen armutsgefährdet. Seither ist die Nachfrage bei Hilfswerken und Caritas-Märkten noch einmal stark gestiegen: Die steigenden Kosten für Energie, Miete oder Gesundheit sorgen dafür, dass immer mehr Menschen unter die Armutsgrenze fallen. Im Äussersten führt dieser Weg auf die Strasse. Die Notschlafstellen sind überfüllt, in Zürich, Genf und Bern.

Unter den Berner Lauben bittet Dänu um Spenden. Damit finanziert er sich seine Mahlzeiten – und die Drogensucht.
Foto: Philippe Rossier
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Es ist Mittwochnachmittag vor Weihnachten im Büro der kirchlichen Gassenarbeit Bern. Bedürftige können sich an einer Kleiderbörse kostenlos mit warmen Kleidern eindecken. Das Interesse an Jacken und Schuhen ist gross: 90 Personen sind gekommen, so viele wie noch nie. Unter ihnen Nici (38). Sie lebt mehrheitlich auf der Strasse, nachdem sie sich von ihrem Freund getrennt hat. Zuerst hat sie als Küchenhilfe weitergearbeitet, doch im Sommer hat sie den Job verloren. Seither schlägt sich Nici mit Betteln durch, gut acht Stunden sitze sie täglich in der Einkaufspassage. An guten Tagen kämen 100 Franken zusammen, oft bedeutend weniger. Damit hält sie sich über Wasser – und ihren Jack Russell Terrier Rocky. «Das erste Mal Betteln war so erniedrigend», sagt Nici. Doch eine andere Möglichkeit habe sie kurzfristig nicht gesehen.

Frauen gleiten seltener in die Obdachlosigkeit

Dänu und Nici sind Einzelschicksale, aber sie sind keine Einzelfälle. Nach Schätzungen der Behörden schlafen in Bern derzeit gut 40 Personen im Freien, doppelt so viele wie vor der Covid-Pandemie. Effektiv sind es wohl sogar weit mehr. «Wir gehen von einer grossen Dunkelziffer aus», sagt Nora Hunziker von der Gassenarbeit Bern. Eine 2022 publizierte Studie der Fachhochschule Nordwestschweiz hat die höchste Dichte von Obdachlosigkeit in Schweizer Städten in Genf ermittelt. In der zweitgrössten Stadt des Landes kommen auf 100'000 Einwohner 210 Obdachlose. Deutschschweizer Städte folgen mit grossem Abstand – angeführt von Bern (58 Obdachlose auf 100'000 Einwohner).

Frauen wie Nici sind auf der Gasse in der Minderheit. Für sie ist das Leben auf der Strasse besonders hart. Nici erzählt von Männern, die sie über Nacht zu sich nach Hause einladen wollten – in Erwartung einer Gegenleistung. Mit solchen unmoralischen Angeboten werden obdachlose Frauen oft konfrontiert. Frauen kämen zwar einfacher bei Privaten unter, aber leider oft nur im Gegenzug für sexuelle Dienstleistungen, sagte Sozialamtsleiterin Claudia Hänzi (47) der «Berner Zeitung». Die Stadt Bern hat kürzlich ihre «Strategie Obdach» präsentiert, mit der sie Lücken in der Obdachlosenhilfe schliessen will. Dazu gehört auch eine Notschlafstelle eigens für Frauen.

Sans-Papier stellen die Mehrheit der Obdachlosen

Darauf warten wird Nici nicht. Sie hat sich nach der harten Landung auf der Strasse überwunden und sich beim Sozialamt gemeldet. Sie hofft, bald von der Gasse wegzukommen. Doch so schnell Nici obdachlos geworden ist, so steinig ist der Weg zurück. Ohne festen Wohnsitz finde sie keine Arbeit. Eine Wohnung zu bekommen sei auf dem Wohnungsmarkt derzeit aber fast unmöglich, da sie Schulden habe. Dennoch hat Nici die Hoffnung nicht verloren. Neulich habe ihr ein Mann 200 Franken in die Hand gedrückt – «einfach so». Es sind solche Momente, die ihr Kraft geben.

Gang zur Sozialhilfe stark stigmatisiert

Die Mehrheit der Obdachlosen in den Schweizer Städten sind Sans-Papiers, sind also ohne Mittel in die Schweiz gekommen. Gemäss Alexander Ott, Chef der Fremdenpolizei der Stadt Bern, sei zuletzt aber auch die Zahl der bettelnden Personen mit Schweizer Pass gestiegen. Die Gassenarbeit berichtet von Menschen, die wegen der steigenden Kosten obdachlos geworden sind: «Wir begegnen Personen, die ihre Wohnung verloren haben, weil sie die Miete oder die Nebenkosten nicht mehr bezahlen können», sagt Nora Hunziker.

Sie kritisiert, dass die Politik Arme statt Armut bekämpft: Im Kanton Bern diskutiert die Politik derzeit über ein generelles Bettelverbot. Hunziker fordert stattdessen eine höhere Sozialhilfe und ein Umdenken im gesamten Sozialwesen. Der Bezug von Fürsorge sei heute stark stigmatisierend, weshalb viele Obdachlose auf den Gang zum Sozialamt verzichteten.

Zum Teil bewusster Entscheid

Dazu gehört «Zwerg» (47). Der Deutsche wohnt auf einem Wagenplatz in Bern. Er hat sich bewusst entschieden, möglichst wenig mit dem Staat zu tun zu haben. «Auf das Arbeitsamt zu gehen, ist für mich schlimmer als zu betteln.»

Zwerg sagt, er brauche nicht viel: 10 bis 20 Franken pro Tag, für Tabak und Bier. In diesen Tagen sei das auf der Strasse schnell beisammen. Weihnachten sei die Zeit des Gebens – und des Konsums: «Die Leute geben etwas mehr, wohl auch, um das eigene Gewissen zu beruhigen.» Das Leben auf den Berner Strassen gefalle ihm ganz gut, sagt Zwerg. Klar gebe es auch unangenehme Begegnungen. Doch das pralle an ihm ab. Stattdessen freue er sich an jenen, die freundlich grüssen – oder ihm ein Lächeln schenken.

Das eigene Lachen wiedergefunden hat in diesen Tagen auch Dänu. Nach zehn Monaten auf der Strasse kann er in Bern ein WG-Zimmer im betreuten Wohnen beziehen. «Ein riesiges Weihnachtsgeschenk», sagt er. Die Nächte im Schlafsack unter freiem Himmel sind für ihn vorerst vorbei. Jetzt hofft Dänu auch auf einen Erfolg bei der Arbeitssuche. «Es geht aufwärts, ich gebe nie auf», sagt er.

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