Neu in der Pflege
Sie wollen in der Corona-Krise helfen

Das ist die Geschichte von drei Menschen, die sich im Corona-Jahr für den Pflegeberuf entschieden haben – sie sind nicht die einzigen.
Publiziert: 12.12.2020 um 15:42 Uhr
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Aktualisiert: 27.12.2020 um 21:59 Uhr
Esther Käufeler hat 25 Jahre ein Restaurant geführt, jetzt arbeitet sie als Pflegehelferin im Spital.
Foto: Nathalie Taiana
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Alexandra Fitz

«Danke» steht auf dem grossen Plakat an der Hauswand. Danke fürs Abstandhalten, danke fürs Einhalten der Hygienemassnahmen, danke, «dass wir so gemeinsam den Viren keine Chance geben». Am Eingang kontrollieren Zivilschützer Besucher, die ihre Angehörigen sehen möchten. Und nur kurz bleiben dürfen. Und möglichst nicht allzu bald wiederkommen sollen. Wegen Corona. Was für ein verflixtes Jahr.

Im dritten Stock der Hirslanden Klinik Aarau liegt die Covid-Isolationsstation. Pfleger schieben Monitore über den Flur, vor den Zimmern hängt Corona-Schutzkleidung an Kleiderständern. An manchen Türen klebt ein grosses «Q». Es steht für Quarantäne.

Hier arbeitet Esther Käufeler. Die 55-Jährige, die Haare kurz, in einem satten Grau, mit auffälligem Brillenrahmen, würde man als «gschaffig» bezeichnen. Als taff. Auf die Frage, ob es nicht brutal sei, seit Frühling auf dieser Station zu arbeiten, entgegnet sie: «Wieso? Das wollte ich ja.»

Mehr Anmeldungen als im Vorjahr

Die 55-Jährige aus Wettingen AG ist nicht vom Fach. Sie hat vor Corona noch nie im Spital gearbeitet. Käufeler ist Pflegehelferin, sie nennt ihre Aufgabe bescheiden «Hilfsjob». Sie bringt Kafi, räumt das Zimmer auf, hilft den Patienten beim Gehtraining, unterstützt die Pfleger. Käufeler nimmt Anweisungen an. Sie sagt: «Ich bin nah am Patienten, und das gefällt mir. Je höher die Stellung, desto öfter ist man am Computer.» Ihr Pensum beträgt 40 Prozent. Sie arbeitet aber die meisten Wochen Vollzeit. Käufeler wird gebraucht, immer wieder fallen Angestellte aus, weil sie krank werden. Das sei eben diese ständige Unterbesetzung im Gesundheitswesen. Diese zeigt in der Corona-Krise fatale Auswirkungen. Bundesrat Alain Berset sagte am Mittwoch: «Das Pflegepersonal ist am Anschlag.»

Esther Käufeler ist nicht die Einzige, die im Corona-Jahr in den Pflegeberuf einsteigt. Die Anmeldungen in Pflegeschulen schnellen in die Höhe. Im Berner Bildungszentrum Pflege haben sich doppelt so viele Menschen für den Ausbildungsstart im Frühling eingeschrieben als 2019. Und die Frist läuft noch bis Ende Januar. Auch in der Zentralschweiz sieht es ähnlich aus. Beim Bildungszentrum Gesundheit Zentralschweiz (Xund) hat die Zahl der Anmeldungen um 13 Prozent zugenommen. Von 299 im Jahr 2019 auf 340 dieses Jahr. Der stellvertretende Direktor von Xund, Tobias Lengen, spricht von «einem positiven Corona-Effekt» und hofft, dass diese Tendenz anhält. Die Zeichen stehen gut: An den Infoveranstaltungen im Herbst nahmen 20 Prozent mehr Interessierte teil als im Jahr davor.

Sie war sauer, als Corona ausbrach

Diese Entwicklung ist für die Pflegebranche wie eine Infusion mit Kochsalzlösung, die einem lädierten Organismus zugeführt wird. Auch wenn es nur Tropfen sind, sie sind sie bitter nötig. Denn die Schweiz bildet seit Jahren viel zu wenig Gesundheitspersonal aus. Besonders bei diplomierten Pflegefachpersonen ist die Situation gravierend. Es herrscht Pflegenotstand: Laut Prognosen braucht das Land bis 2030 gegen 65'000 zusätzliche Pflegende.

Pflegenotstand in der Schweiz: Warum er uns alle angeht

Und jetzt gibt es ausgerechnet in der grössten Gesundheitskrise seit der Spanischen Grippe eine Trendwende. Dafür sorgt auch die 21-jährige Soline Reusser, die seit September an der ZHAW Pflege studiert. Als die Pandemie ausbrach, war sie vor allem hässig. «Ich war sauer, dass ich in dieser Krisensituation noch nichts tun konnte.» Weil die Ausbildung noch vor ihr lag. «Seit Corona will ich erst recht in die Pflege», sagt Reusser. «Gerade in dieser Zeit finde ich es schön, Menschlichkeit zu erleben und sie wieder zu teilen.» Auch ihre Mutter ist Pflegerin, und Reusser selbst hat ihr Zwischenjahr nach der Matura in einem Spital und bei der Spitex verbracht.

«Klar, ist es ein anstrengender Job»

Nun steht sie mit ihren Mitstudenten um ein Bett und übt, wie man Insulin spritzt. Themenwoche Diabetes. Einen halben Tag pro Woche findet der Unterricht vor Ort statt. Praktische Übungen können schlecht zu Hause am Bildschirm gemacht werden. Reusser misst den Blutzucker und macht die Nadel parat. «Wir stechen nicht scharf», sagt die 21-Jährige. Die Patientin auf dem Krankenbett, ihre Mitstudentin, hält ein Herz aus Schaumstoff in der Hand, in das die Flüssigkeit für die Übung injiziert wird.

Auch für das Bachelorstudium ist das Interesse aktuell gross. An den Online-Informationsveranstaltungen gibt es so viele Teilnehmer wie noch nie. Letzte Woche waren es 425 Interessierte, ansonsten 300.

Reusser macht sich keine Illusionen. Natürlich müsse sich einiges in ihrem Wunschberuf ändern. So seien etwa die Protestaktionen in der ganzen Schweiz mit dem Motto «Wer pflegt mich im Jahr 2030?» wichtig. Die Arbeitsbedingungen müssen attraktiver werden. «Klar, ist es ein anstrengender Job», sagt Reusser. Aber man könne den Patienten und den Angehörigen viel geben. Und im Gegenzug erhalte man viel zurück. «Wir machen das nicht, weil wir gerne Popos waschen, es gehört halt dazu – Pflege ist viel mehr als das», sagt Reusser. Pflegefachleute würden nicht mit ihren ausserordentlichen Leistungen protzen. Sie leisten diese in der Stille. Und dies werde jetzt, wo die Pflege mehr im Rampenlicht sei, den Menschen auf einmal bewusster.

Im Land etabliert sich ein anderes Bild der Pflege, Adjektive wie «systemrelevant» werden angefügt. Vorher ging es in der Pflege immer nur um hohe Aussteigerquoten, schlechte Bezahlung und Zuwanderer, die diesen Job «noch» machen. Wert und Wichtigkeit der Pflegeberufe für die Gesellschaft werden in der Pandemie sichtbar. Dieser Corona-Effekt ist eine Chance für die Pflegeberufe.

Leute müssen rekrutiert und ausgebildet werden

Auch berufsfremde Personen wollen umsteigen, nicht trotz, sondern wegen der Krise. Denn bei allen Schattenseiten hat der Beruf auch eine hohe Arbeitsplatzsicherheit.

Schulen und Kliniken bemühen sich um diese neuen Fachkräfte. Die Hirslanden Klinik Aarau will zum Beispiel Wiedereinsteiger motivieren, indem sie mit flexiblen Arbeitszeiten und Teilzeitpensen bereits ab 10 Prozent lockt. In der Zentralschweiz will man 2021 in eine Kampagne für Quereinsteiger investieren. «Die anspruchsvolle Situation des Arbeitsmarkts in anderen Branchen könnte die Gewinnung von Quereinsteigenden in die krisensicheren Gesundheitsberufe begünstigen», sagt Tobias Lengen vom Bildungszentrum Xund.

Zwahlen fasziniert die Pflege und das Spital-Umfeld

Der 30-jährige Chris Zwahlen ist so ein Quereinsteiger. Und einer, der wegen Corona schon im März sofort in den Einsatz wollte. «Ich sah die Bilder aus Norditalien. Das Chaos. Die Leute, die sich für andere aufopfern», sagt Zwahlen. Er fürchtete, dass das alles auch in die Schweiz kommen werde, und wollte seinen Teil dazu beitragen, dass dies nicht passiert.

Zuvor war sich der Zürcher lange nicht sicher, wo er beruflich hin möchte. Zwahlen hatte sein Medizinstudium nach einem Jahr abgebrochen und danach Lebensmittelwissenschaften studiert. Er arbeitete sechs Jahre in seinem Beruf, leitete ein Team. «Es funkte aber nicht», sagt Zwahlen in einem Klassenzimmer des Careum-Bildungszentrums in Zürich, wo er sich nun drei Jahre zum diplomierten Pflegefachmann ausbilden lässt. Er fragte sich: Was bewegt mich? Was will ich? Es kamen diverse Berufe in Frage. Aber die Pflege tauchte immer wieder auf. Zwahlen war in der RS Spitalsoldat, bekam hautnah mit, wie seine kleine, schwer kranke Schwester gepflegt wurde, und betreute im Februar ein paar Tage seine Grossmutter. «Das war natürlich laienmässig, ich war nur die Vertretung», sagt Zwahlen bescheiden. Doch er merkte, dass ihn die Pflege fasziniert. Und im Spital-Umfeld fühlte er sich schon immer wohl – selbst wenn er als Patient da sein musste.

Könnt ihr mich brauchen?

Als Corona ausbrach, schrieb Zwahlen Spitäler und Pflegeheime in seiner Nähe an und fragte: Könnt ihr mich brauchen? Das Triemlispital in Zürich meldete sich. Man konzipierte innert Kürze ein Programm für Laien. Zwahlen wurde zur «Sitzwache» eingeteilt. Während der Schicht wich er keinen Moment vom Bett der zugeteilten Patienten und kümmerte sich um sie. Sein damaliger Arbeitgeber zeigte Verständnis, Zwahlen arbeitete von da an 30 Prozent im Spital. Nach diesen drei Monaten Spitalalltag war für Zwahlen endlich klar: «Ich bin da, wo ich hingehöre.»

Chris Zwahlen und Soline Reusser lassen sich zu diplomierten Pflegefachkräften ausbilden. Doch es gibt auch Menschen wie Esther Käufeler, die einfach helfen wollen. Ohne während mehreren Jahren einen neuen Beruf zu erlernen.

Käufelers Geschichte beginnt im März. Sie sass mit ihrem Mann im Garten bei einem Apéro. Das Restaurant, das die beiden 25 Jahre geführt hatten, war verkauft. Plötzlich hatte sie viel Freiraum. Und Corona verlangsamte ihr Leben noch mehr. Sitzungen, Anlässe, all diese Pflichtübungen fielen weg. Käufeler sagte zu ihrem Mann: «Das kann es nicht sein, ich muss helfen!» Ihr Mann entdeckte in der Zeitung, dass der Kanton Aargau gemeinsam mit dem Schweizerischen Roten Kreuz Intensivlehrgänge für Pfleger anbot. Gratis. Das Ziel: Prävention, parat sein für die zweite Welle.

Drei Wochen Kurs, acht Wochen Praktikum. Die Aargauerin wollte sofort in ein Spital. Aber das war nicht so leicht. Der Bedarf an diplomierten Pflegern ist gross, Quereinsteiger mit Schnellbleichen wie Esther Käufeler haben es nicht leicht. Die meisten der 20 Kursteilnehmer gingen in ein Pflegeheim oder zur Spitex. Sie aber wollte ins Spital. «Ich habe eine demente Mutter, die ich betreue, das reicht mir», sagt Käufeler. In der Hirslanden Klinik habe sie wohl zur richtigen Zeit angerufen. Im Februar war das noch anders: Käufeler fragte damals schon, ob sie helfen könne. Und erhielt eine Absage: «Ich konnte ja nichts. Was hatte ich schon zu bieten?», sagt die 55-Jährige.

«Ich bleibe im Gesundheitswesen»

Und dann schuf man nach Ablauf des Praktikums sogar eine Stelle für die Pflegehelferin. «Für Quereinsteiger ist eine Arbeit im Gesundheitswesen optimal. Wenn man Menschen gern hat und nicht faul ist, wird man mit offenen Armen empfangen», sagt Käufeler. Die 55-Jährige ist finanziell nicht auf die Stelle angewiesen, es gehe mehr um das Soziale als um den Verdienst. «Ich fühle mich glücklich, dass ich helfen kann und dass man mir die Chance gegeben hat.»

Eine Lösung für den Fachkräftemangel in der Gesundheitsbranche ist das nicht. Dafür müssten sich die Rahmenbedingungen grundlegend ändern. Eine Heldin ist Käufeler trotzdem.

Anfangs wusste sie nicht, wie das wird, mit 55 noch mal ganz unten anzufangen. Befehle befolgen. Sie war immer ihr eigener Chef. Heute, acht Monate später, steht sie im Gang der Covid-Station und sagt: «Ich bleibe im Gesundheitswesen.»

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