Nachrichtendienst warnt
Mindestens 70 Russen-Spione in der Schweiz!

Viele europäische Nationen weisen Putins Agenten aus. Bern wartet zu, obwohl Dutzende davon im Land sind. In einem vertraulichen Dokument warnt der Schweizer Nachrichtendienst nun.
Publiziert: 10.04.2022 um 00:32 Uhr
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Aktualisiert: 10.04.2022 um 12:42 Uhr
Simon Marti und Fabian Eberhard

In ganz Europa packen russische Diplomaten gerade ihre Koffer. Deutschland, Italien, Frankreich oder Spanien haben bereits Botschaftspersonal des Kremls ausgewiesen – als erste, rasche Reaktion auf die Kriegsverbrechen russischer Soldaten in der Ukraine.

Die drastische Massnahme dient nicht zuletzt dem Selbstschutz: Viele dieser Diplomaten verbringen ihre Tage nicht damit, die bilateralen Beziehungen zu pflegen oder Pässe abzustempeln, sondern tragen Informationen zusammen, um Moskau auf dem Laufenden zu halten. Kurz gesagt: Sie spionieren.

Der Bundesrat schlägt einen anderen Weg ein als die meisten europäischen Länder. Bern hat entschieden, fürs Erste keinen einzigen Pseudodiplomaten nach Hause zu schicken – ungeachtet des damit verbundenen Risikos: Gegenüber Blick räumte der Nachrichtendienst des Bundes (NDB) ein, dass rund ein Drittel des hierzulande akkreditierten Personals der russischen Vertretungen als Mitarbeiter des Geheimdienstes identifiziert oder zumindest verdächtigt ist. «Hinzu kommen Informanten, Quellen, Offiziere unter nicht offizieller Tarnung und solche, die nur kurz für einen Auftrag in die Schweiz reisen», schreibt der NDB.

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Bedrohung durch Russland steigt

Ein Drittel des akkreditierten Personals, das ist eine stattliche Truppe: Im vergangenen Jahr waren laut Angaben des Aussendepartements 220 russische Diplomaten in der Schweiz registriert. Davon waren demnach gut 70 Spione. Diese dürften in Bern sowie in Genf, dem Sitz zahlreicher internationaler Organisationen, stationiert sein.

Recherchen zeigen, dass der Schweizer Nachrichtendienst noch vor einer Woche warnte, diese Agenten unbehelligt gewähren zu lassen. Mehr noch: Der NDB befürchtet, dass Moskau seine Spionagetätigkeit in der Schweiz nun sogar noch verstärken könnte.

In einer vertraulichen Analyse, die SonntagsBlick vorliegt, hält der NDB fest: «Infolge der massenweisen Ausweisung von Nachrichtendienstoffzieren unter diplomatischer Tarnung und dem Erlass von Einreiseverboten verringern die europäischen Staaten die Bedrohung durch Russland nachhaltig.»

Die Bedrohung der Schweiz, so heisst es weiter, «wird sehr wahrscheinlich gleich bleiben oder steigen, falls Russland die im europäischen Umfeld nicht mehr möglichen nachrichtendienstlichen Aktivitäten in die Schweiz verlegt oder die Schweiz als Ausgangspunkt nutzt, um die Administrativ-Massnahmen der anderen Schengenstaaten zu umgehen».

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NDB sieht keine Veränderung der Bedrohung

Die Eidgenossenschaft als sicherer Hafen für Putins Schnüffler? In diesem Fall geriete der Bund bald international in Schwierigkeiten, bilanziert der NDB: «Die Schweiz könnte somit unter Druck kommen, sich den administrativen Fernhaltemassnahmen anderer europäischer Staaten anzuschliessen, um von den russischen Nachrichtendiensten nicht als Einfallstor nach Europa missbraucht zu werden.»

Dass in der eng vernetzten Welt der Geheimdienste der NDB dieses Szenario ohne vorgängige Hinweise von Partnerdiensten entwirft, scheint wenig plausibel.

Die offiziellen Stellungnahmen fallen dürftig aus. Sprecherin Isabelle Rappo schreibt auf Anfrage, der NDB habe seit Beginn des Krieges «keine Veränderung der Bedrohung durch verbotenen Nachrichtendienst in der Schweiz ausgehend von Russland» festgestellt. Zur Gefahr einer Umgehung der Sanktionen via Schweiz und zum daraus resultierenden Druck europäischer Staaten auf den Bundesrat wollten weder der NDB noch die Bundeskanzlei Stellung nehmen.

Aussen- und Sicherheitspolitiker plädieren derweil für einen Kurswechsel. FDP-Präsident Thierry Burkart (46) verlangt, dass «bei denjenigen, die nachweislich nachrichtendienstlich tätig sind, die diplomatische Immunität aufgehoben wird und sie damit faktisch ausgewiesen werden». Dies wäre ein klares Zeichen, dass man illegale Aktivitäten weder in der Schweiz noch gegen die Ukraine toleriere, so der Aargauer Ständerat.

Linke und Rechte einig

Werner Salzmann (59), SVP-Parlamentarier und Präsident der Sicherheitspolitischen Kommission des Ständerats, sieht es ähnlich: «Diplomaten, denen man Spionage nachweisen kann, müssen ausgewiesen werden. Das gilt für Diplomaten aller Herkunftsländer.» Andere Vertreter fremder Staaten, insbesondere jene, die beim Internationalen Roten Kreuz oder bei der Weltgesundheitsorganisation tätig seien, nimmt Salzmann davon aus. Eine generelle Ausweisung würde die Schweiz als Standort für Friedensverhandlungen «definitiv ausschliessen», befürchtet er.

Diese Abwägung stösst bei der Linken auf Zustimmung. «Eine Friedenspolitik braucht diese Kanäle, auch wenn man die Gräuel einer Kriegspartei nur verurteilen kann», sagt die grüne Nationalrätin Sibel Arslan (41, BS).

Massgebend aber sind die Mehrheitsverhältnisse in der Landesregierung. Sie ist es, die entscheidet, ob Botschaftspersonal ausgewiesen wird oder nicht.

Die Zeitungen von CH Media berichteten, dass Verteidigungsministerin Viola Amherd (59, Mitte) die russischen Agenten härter anpacken will. Bei einer Mehrheit ihrer Kolleginnen und Kollegen fand sie diese Woche damit zwar kein Gehör. Das könnte sich aber rasch ändern. Moskaus Spione dürften bald wieder Thema im Bundesrat sein.

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