Polizei lässt Opfer des Sex-Gewerbes im Stich
Freie Bahn für Menschenhändler

Im Aargau und in St. Gallen werden Fälle von Menschenhandel und illegaler Prostitution praktisch nie aufgedeckt. Das ist kein Zufall.
Publiziert: 26.05.2018 um 23:39 Uhr
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Aktualisiert: 12.09.2018 um 17:44 Uhr
Thomas Schlittler

Der Aargau ist der viertgrösste Kanton der Schweiz. Mehr als 650’000 Menschen leben hier, rund acht Prozent der Gesamtbevölkerung.

Auch im Hinblick auf Erotikbetriebe steht der Aargau landesweit auf Rang vier. Eine Untersuchung über den Schweizer Sexarbeitsmarkt – in Auftrag gegeben vom Bundesamt für Polizei – kam 2015 zum Ergebnis, dass jedes zehnte der 902 Bordelle hierzulande im Aargau steht. Über Prostituierte gibt es zwar zahlreiche Schätzungen, aber keine verlässlichen Zahlen. Der Aargau dürfte dennoch auch in diesem Bereich weit vorn rangieren.

Unterdurchschnittliche Aufklärungsraten

Ganz anders sieht es aus, wenn es um die Aufdeckung von Verbrechen geht, die im Rotlicht­milieu verbreitet sind. Gemäss der Polizeilichen Kriminalstatistik wurden zwischen 2009 und 2017 in der Schweiz 638 Fälle von Menschenhandel registriert – gerade mal zwei davon im Aargau (0,3 Prozent). Auch die illegale Förderung der Prostitution scheint hier kaum ein Thema zu sein. Während in den vergangenen neun Jahren schweizweit 1041 Fälle entdeckt wurden, waren es im Aargau nur 17 (1,6 Prozent).

Diskrepanz: Im Hinblick auf Erotikbetriebe steht der Aargau landesweit auf Rang vier. Bei den registrierten Fällen von Menschenhandel in der Schweiz macht der Kanton aber nur 0,3 Prozent aus.
Foto: Anja Wurm
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Im Kanton St. Gallen ist die Diskrepanz zwischen Einwohnerzahl, Grösse des Rotlichtmilieus und Fällen von Menschenhandel beziehungsweise Prostitutionsförderung ebenfalls augenfällig. Ganz anders sieht es zum Beispiel im Kanton Solothurn aus: Dort werden überproportional viele jener Straftaten registriert.

Aufdeckung von Menschenhandel verlangt Ressourcen

Für Rebecca Angelini (39) von der Fachstelle Frauenhandel und Frauenmigration (FIZ) ist klar: «Eine hohe Fallzahl bedeutet nicht, dass ein Kanton ein grosses Problem mit Menschenhandel hat, sondern dass dort seriös ermittelt wird.» Die Aufdeckung von Menschenhandel brauche viele Ressourcen. «Es ist deshalb ein politischer Entscheid, wie viele Fälle in einem Kanton auf­gedeckt werden», so Angelini.

Die Kantonspolizei St. Gallen bestätigt indirekt: «Es handelt sich um ein klassisches Kontrolldelikt. Je mehr wir kontrollieren, desto mehr Gesetzesverstösse decken wir auf», so Kommunika­tionsleiter Hanspeter Krüsi.

Im Aargau werden die Erotikbetriebe «mindestens einmal pro Jahr» kontrolliert. Nicht gerade häufig. Kaum überraschend, dass der Kantonspolizei nach eigener Darstellung «konkrete Hinweise auf Menschenhandel und andere schwere Delikte fehlen». Zur Verteidigung führt der Aargauer Polizeisprecher Bernhard Graser an: «Wir haben im Verhältnis zur Wohnbevölkerung das kleinste Polizeikorps und sind deshalb gezwungen, Schwerpunkte zu setzen.» Dies geschehe bei der Bekämpfung grenzüberschreitender serieller Einbruchskriminalität sowie der Klärung von Kapitalverbrechen.

Opfer haben meist wenig Vertrauen in die Polizei

Die Kapo St. Gallen wiederum spricht von monatlich mehreren Kontrollen im Milieu. Kommunikationschef Krüsi: «Diese müssen oft repressiv durchgeführt werden, da ist das Erkennen von Menschenhandel schwierig.»

Rebecca Angelini von der FIZ kritisiert genau diese Verfahrensweise: «Wenn die Polizisten rein repressiv vorgehen und nur da­rauf schauen, ob die Frauen im Sexgewerbe die nötigen Papiere haben oder alle Vorschriften einhalten, können diese kein Vertrauen zur Polizei aufbauen.» Opfer von Menschenhandel vertrauten sich den Polizisten daher eher selten an.

«Einige Kantone, da­runter Solothurn, Bern oder Zürich, leisten in diesem Bereich vorbildliche Arbeit», so Angelini. Dort arbeiteten Spezialisten für Delikte aus dem Bereich Menschenhandel.

Vor allem in Solothurn, von der Struktur her den Kantonen Aargau und St. Gallen sehr ähnlich, schlägt sich dieses Engagement auch in der Statistik nieder.

Der Erfolg kommt nicht von ungefähr. «Die Kantonspolizei Solothurn verfügt über spezialisierte Rotlichtverantwortliche», sagt deren Sprecherin Astrid Bucher. Diese würden die Kontrolle von Rotlichtbetrieben sicherstellen und wüssten auch, richtig auf Verdachtsmomente für Menschenhandel oder Förderung der Prostitution zu reagieren. «Durch Hausdurchsuchungen und standardisierte Kontrollen von Bordellen wird der Verdacht zu erhärten versucht.»

Es fänden Einvernahmen von Opfern und Tätern durch die Staatsanwaltschaft und Polizei sowie weitere Ermittlungshandlungen statt.

Kapo St. Gallen: Ermittler im Nebenamt

Dabei müssten meist Dolmetscher beigezogen werden; oft arbeite man auch mit internationalen Partnern zusammen. Bucher: «Das Resultat sind nachhaltige Bordellschliessungen und somit die Vermeidung von Menschenhandel und Förderung der Prostitution.»

St. Gallen meldet ebenfalls Kontrollen im Milieu. Engagement und Spezialisierungsgrad scheinen sich aber in Grenzen zu halten. Die Medienstelle lässt verlauten: «Bei der Kantonspolizei St. Gallen kümmert sich ein Ermittler im Nebenamt intensiver mit der Problematik.»Mit anderen Worten: Es gibt Wichtigeres als Opfer von Menschenhandel.

Kantone mit den meisten Bordellen im Vergleich
Foto: BLICK-Grafik
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